Im Labyrinth des Fummelns und der Fatalität

Manuel Brug, Die Welt (25.05.2010)

La Calisto, 21.05.2010, Basel

Jan Bosse inszeniert in Basel Cavallis "La Calisto"

Teilzeitlesben, Crossdresser, Metrosexuelle, Transen, Immergeile, Dauerkeusche, Verliebte, Verrückte - dem Musiktheater war nichts Zwischenmenschliches fremd. Zumindest nicht in der Barockoper, bevor ihr Klerus und Obrigkeit für Jahrhunderte einen Moralmaulkorb verpassten.

Man weiß solches von Monteverdis "Poppea". Und seit René Jacobs in den Neunzigerjahren durch fast ganz Europa dirigierend seinen Siegeszug mit "La Calisto" in der gebildet-sinnlichen Herbert-Wernicke-Inszenierung angetreten hatte, weiß man es auch von Francesco Cavalli. Kallisto, die Nymphe der angeblich so liebesresistenten Mond- und Jagdgöttin Diana, gerät hier in einen für sie übel endenden, um diverse Identitätsirrungen und Geschlechtsverwirrungen angereicherten Strudel aus Lust, Frust, Eifersucht und Rache. Jupiter verführt sie in Frauengestalt, die zornige Juno verzaubert sie später in eine Bärin, der der reuige Göttervater lediglich eine ewige Existenz als Sternenbild gewähren kann.

Das lange die Oper bestimmende Thema der Metamorphose wird hier aus seiner humanistisch-philosophischen Höhe auf eine niedrigere, mitunter beherzt vulgäre, trotzdem emotional anrührende Ebene transferiert. Denn das zahlende Publikum in den venezianischen Bürgertheatern, in denen auch dieses hinreißende Werk kurz vor der Karnevalssaison 1651 uraufgeführt wurde, wollte gut und ein wenig derb unterhalten werden. Die sparsam orchestrierte Partitur, im Grunde ein nur selten melodisch weiter ausholendes Rezitativ, geizt dabei nicht mit Frechheiten und vermag dennoch gefühlvoll zu verzaubern.

Am Theater Basel gelang dem als Schauspielregisseur längst erfolgreichen Jan Bosse als Operneinstieg vor zwei Jahren mit Monteverdis "Orfeo" eine der schönsten Inszenierungen der Saison. Seine zweite Musiktheaterarbeit setzt jetzt dort auf trashigen, lauthals bejuchzten Klamauk. Dem Lachen folgt - oft als Bruch - Nachdenklichkeit.

Wieder schickt uns die Regie auf eine Reise. 2008 begann es im Foyer zwischen Stehtischen und Champagnergläsern mit Popstar Orfeos Hochzeit, der nach dem Tod der Euridice der Abstieg in die Theaterunterwelt folgte. Diesmal dürfen nur die Frauen in den Zuschauerraum, die Männer nehmen auf der Szene Platz, wo Stéphane Laimé das Auditorium spiegelbildlich nachgebaut hat. Durch die Bühnenöffnung beobachten sich die rüde getrennten Geschlechter, schauen gespannt zu, wie auf dem dazwischen geschobenen, auf jeder Seite von einer Orchestergruppe flankierten Laufsteg keiner mehr weiß, ob er Mann oder Frau ist. Singen die (echten) Damen, spielt nur die eine Musiktruppe des seidenweich intonierenden La Cetra Barockorchesters, und bei den Herren die andere, souverän doppelgeführt von Andrea Marcon. Die Handelnden beachten das freilich nicht als Lösungsvorschlag. Und verfilzen sich so unentwirrbar in einem Liebeslabyrinth aus Fummeln und Fatalitäten, bei dem das volle Orchester ebenfalls geschlechterkämpft.

Jan Bosse und Andrea Marcon verlassen sich in dieser robusten, später nach Frankfurt weiter ziehenden Arbeit auf die theatralische Kraft dieser Mischung aus Farce und Fabel, Commedia und Welterklärungstheater. Sie tauschen Partner und Rollen, spitzen den Kontrast der Affekte zu und treiben das Tempo. Über den Catwalk und durch die Zuschauerreihen hetzen sie ihr um Jungsänger der Schola Cantorum Basiliensis erweitertes Ensemble. Dieses hält beherzt mit, und so geht der tolldreist minimalisierten Liebenskomödie über drei schweißtreibende Stunden der theatralische Atem nicht aus. Bis das Publikum selbst mit Taschenlämpchen Sternenhimmel spielen darf.