Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (01.06.2010)
Eine Inszenierung am Puls der Zeit und zwei Traumbesetzungen für die Hauptpartien: «Rusalka» mit Kassimira Stoyanova und Piotr Beczala in den Hauptrollen wurde begeistert aufgenommen.
Ob es nicht doch ein Missverständnis ist? In die Musikgeschichte ging Antonín Dvorak als bedeutender Sinfoniker ein. Dass er auch Opern geschrieben hat, zehn insgesamt, fand keine vergleichbar adäquate Beachtung auf den Bühnen der Welt. Darüber beklagte sich Dvorak noch wenige Monate vor seinem Tod: «Man sieht mich als Sinfoniker an, und doch habe ich schon vor langen Jahren meine überwiegende Neigung zur dramatischen Schöpfung bewiesen. Ich wollte mich mit all meinen Kräften dem Opernschaffen widmen, weil ich die Oper für die geeignetste Schöpfung für das Volk halte.»
Seine Aufgabe als Komponist sah Dvorak wesentlich darin, mit seiner Musik zur Entfaltung und Verbreitung einer eigenständigen tschechischen Nationalkultur beizutragen. Dass er kein genuiner Musikdramatiker war, sondern aus dem Lyrischen schöpfte, macht es den Regisseuren schwer; und dass er sich in seinem Opernschaffen immer wieder auf volkstümlich mythische sowie sagenhaft naturverwobene Stoffe abstützte, mochte im Trend seiner Zeit liegen und vor allem in Dvoraks Bestreben nach einer auch historisch verankerten tschechischen Musikkultur.
Musiktheater statt Opernmärchen
Ob sich in solchen mythischen Stoffen, in der naturhaften Elfen- und Undinenwelt Rusalkas sowie in der domestizierten Gegenwelt des Prinzen Bezüge zu aktuellen Ich-Befindlichkeiten aufdecken lassen? Von solchen Fragen ging Regisseur Matthias Hartmann in seiner Neuinszenierung aus, indem er Natur und Kultur und die Bedrohung der einen Welt durch die andere einander gegenüberstellte und zwischen diesen unversöhnlichen Welten die natürliche Kreatur, Rusalka, die weg vom Elfendasein und hin zum Menschsein strebt, zu einer Existenz «im Glanz der Sonne».
Karl-Ernst Herrmann, der grossartige Bühnenbildner, baute dazu einen symbolischen Raum, der alles offen lässt – umgrenzt nur durch das mit Lichtstäben angedeutete Kantennetz eines riesigen Würfels. Statt eines Sees im ersten und dritten Akt lässt er ein bühnenbreites Blumenfeld blühen, Lebensraum der Elfen und des Wassermannes. Im Hintergrund leuchten die Lichter einer nächtlichen Stadt. Die Verbindung zwischen den Welten, vielleicht auch die Zerstörung der einen durch die andere, deutet eine Hochspannungsleitung an.
Denn was im ersten Akt reine Natur ist, mit aufgehendem Mond, wenn Rusalka ihr berührendes Lied an den Mond singt, ist im dritten Akt kaputte Natur, überdeckt mit jenem Müll, den eine zivilisierte Gesellschaft im See «entsorgt»: ausrangierte Möbelstücke, Autoreifen, Schaumstoffe, Staubsaugerschläuche, Einkaufswagen. Es ist einer der eindrücklichsten Momente dieser Aufführung, wenn die drei Waldelfen, von Sandra Trattnigg, Anja Schlosser und Katharina Peetz ungemein anmutig gespielt und lupenrein gesungen, im Müll herumsuchen, um sich das eine oder andere als schmückendes Accessoire anzuprobieren: einen Stereo-Kopfhörer als Gürtel, eine Tasche als Hut, den Staubsaugerschlauch als Halskette.
Mit einem Augenzwinkern
Eine verkehrte Welt, entfunktionalisiert und von Matthias Hartmann vital umgesetzt, dann und wann auch mit einem Augenzwinkern. Vor allem in den Szenen mit der Hexe Jezibaba – echt bilderbuchhaft dargestellt von Liliana Nikiteanu – wenn sie die Seejungfrau Rusalka mit Messer und anderen Geräten «häutet». Oder wenn Eva Liebau, vom Küchenjungen zur liebreizenden Gastronomie-Jungmanagerin avanciert, in langen Fäden einen Kaugummi von ihrer Schuhsohle zieht. Klar umrissene Charakterporträts auch von Alfred Muff als stimmgewaltiger Wassermann und Michelle Breedt als fremde Fürstin.
Im Zentrum der Aufführung aber stehen Rusalka und der Prinz. Kassimira Stoyanova gab als Rusalka ein umjubeltes Rollendebüt. Grossartig ihre schauspielerische Intensität, wunderbar ihr strahlender, ungemein leuchtkräftiger Sopran. Nach seinem Riesenerfolg in «Rusalka» an den Salzburger Festspielen 2008 ist Piotr Beczala nun auch auf der Zürcher Opernbühne als Prinz zu erleben. Eine Idealbesetzung, stimmlich wie darstellerisch. Man weiss nicht, was man mehr rühmen möchte, seine prinzenhafte Ausstrahlung oder seine in jedem Zoll glaubwürdige Wandlung vom verspielten Liebhaber zum todessehnsüchtigen Liebenden. Oder seine Tenorstimme, die heute zu den schönsten überhaupt zählt, imposant in der leuchtend-strahlenden Höhe, mit einschmeichelndem Belcanto-Schmelz und meisterhaft ausgestalteten Legatolinien.
Vladimir Fedoseyev dirigierte. Auch für ihn war «Rusalka» ein Debüt. Kleine Unebenheiten im Orchester fielen vor allem in der ersten Hälfte der Aufführung auf, und die Lautstärke orientierte sich zuweilen eher an Tschaikowsky als an Dvorák. Was zu Lasten der Sänger ging. Aber das kann sich im Laufe der kommenden Aufführungen noch besser einpendeln. Grosser Applaus zum Schluss für alle – und vor allem für eine Interpretation, die durchaus den Nerv der heutigen Zeit trifft.