Der Mörder macht Geschenke

Christian Berzins, Aargauer Zeitung (09.05.2006)

Don Giovanni, 07.05.2006, Zürich

Opernhaus Zürich: Sven-Eric Bechtolf versetzt Mozarts «Don Giovanni» akzentstark in die 1950er-Jahre, während Franz Welser-Möst brav dirigiert.

Die Aufregung im Zürcher Publikum zum Schluss war gross, obwohl das Gesehene - ganz zu schweigen vom Gehörten - harmlos war. Deswegen «buh» rufen? Dafür «bravo» brüllen? Sicher gab Regisseur Sven-Eric Bechtolf dem Spiel die eine oder andere überraschende Wendung. Unter dem Strich blieb ein in die Partywelt der 1950er versetzter, eleganter «Don Giovanni», der vor allem von der Geschmeidigkeit Simon Keenlysides, des Interpreten der Titelfigur, lebte.

Das Bild der «Don Giovanni»-Deutungen hat in den letzten Jahren auf den Bühnen gekehrt. Aus dem elegant den Federhut schwingenden, am Champagnerkelch nippenden Verführer wurde ein durchgeknallter, lustsüchtiger Mensch ohne Ziele. Don Giovanni ist längst kein Sympathieträger mehr. In der Interpretation Keenlysides ist er es interessanterweise trotzdem, obwohl sein Giovanni-Porträt brutal, schräg, skrupellos und böse ist: Er greift sich zwischen die Beine, spuckt auf den Boden, (fr)isst mit den Fingern, sticht Leporello das Messer in die Hand. Keenlyside spielt im Seidensakko mit der «alten» Rolle und deutet mit den Augen das «Neue» an. Das ist raffiniert . . . und mehrheitsfähig. Keenlyside verkörpert jene Art Womanizer, die mit erhobenem Zeigefinger gemahnt, aber insgeheim bewundert werden.

Die sechs Begleiter haben weniger Profil. Nur im Ansatz ist eine Deutung ihres Wesens zu erkennen. Bechtolf führt sie konturlos, versucht, ihre Arien zu bebildern: Ihre Seelenzustände werden von einem Bewegungschor erzählt. So werden aus vermeintlich singulären Seelenkranken auch auf andere Menschen verweisende Krankheitsbilder. Zu Don Ottavios «Dalla sua pace» legen sich dem vermeintlich schwachen Mann die Frauen zu Füssen, zu Donna Annas «Or sai» vereinigen sich Pärchen zum Tanz, um sich bald zu erwürgen. Bechtolf lässt Doktor Freud über «Don Giovanni» schweben, wagt eine psychoanalytische Deutung: Die Sofas stehen fast in jeder Szene auf der lang gezogenen Bühne von Rolf Glittenberg; eine afrikanische Geliebte des Komturs (Alfred Muff) stellt eine afrikanische Holzstatue in den Friedhof bzw. in eine Leichenhalle. Die Statue wird Giovannis Gast sein. Das Unterbewusste, die triebhaft-dionysische Seite der «Don Giovanni»-Menschen, wird hier freudianisch angedeutet.

So dreht sich bei Bechtolf bisweilen nicht alles um ihn, um Don Giovanni, sondern um «es», das Unterbewusstsein. Don Giovanni ist Katalysator, der das Verborgene aus dem braven Sextett locken kann. Andeutungsweise. Eine leise Enttäuschung bleibt. Im Programmheft hat Bechtolf jede Figur sehr aufschlussreich entschlüsselt, sagt aber auch, dass seine Ideen nicht zu inszenieren seien. Ein Grund für sein «Versagen» sei die Musik Mozarts, die bereits alles erzähle. Leider fehlen der Interpretation die rauschhaften Momente.

Hörbar ist, wie sehr Franz Welser-Möst mit dem Orchester gearbeitet hat: Sein Streicherklang ist aufgehellt, oft sehr fein. Aber in diesem Spiel ist wenig Zug. Und das liegt nicht an den diskussionswürdigen Tempi (viele der langsamen leuchten nämlich ein), sondern an der fehlenden Kraft: kein Orchesterrausch, sondern ausgeglichene, wohlgestalte Nüchternheit. Ein Problem sind die Sänger, die eben auch nicht das berüchtigte Quäntchen mehr geben können: Malin Hartelius (Elvira) und Eva Mei (Anna) sind nun mal lyrische Stimmen und ihr Gesang vom Anfang bis zum Ende einer Arie berechenbar. Martina Janková (Zerlina) zuzuhören ist spannender, weil sie Ausdruck wagt, wenn auch manchmal auf Kosten einer wohlgestalteten Linie. Piotr Beczala versucht mit grosser Geste die Feinheiten der Ottavio-Partie zu erkunden . . . Anton Scharinger (Leporello) verströmt nicht immer sehr exakt dienerhafte Liebenswürdigkeit. Aber selbst der raffiniert agierende Keenlyside wird stimmlich der Rolle nicht ganz gerecht: Elegant ist sein geschmeidiger Bariton, ungemein die Ausdruckspalette, doch spätestens nach dem Ständchen zeigt auch er kleine Schwächen.

Einem Teil des Publikums gefiel das nicht und es machte keine Geschenke. Dafür überraschenderweise Don Giovanni! Nach seiner Höllenfahrt liegen Präsente für seine «Lieben» bereit und er gibt ihnen damit den weiteren Weg vor. Ottavio kriegt eine Uhr fürs einjährige Warten auf Anna; Leporello einen Schüttelbecher für den nächsten Herrn, Elvira ein Kruzifix fürs Kloster, Masetto/Zerlina erhalten eine Orangenpresse. Und Donna Anna? Ja, wenn man das wüsste, «Don Giovanni» wäre «geklärt». Der Regisseur will oder kann das nicht. Seine Lesart verliert sich auch hier im - faszinierenden - Ansatz.