Leidenschaften – entfesselt und gebändigt

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (21.06.2010)

Salome, 19.06.2010, Zürich

«Salome» von Richard Strauss als Festspiel-Premiere im Opernhaus Zürich

Mit einem wahren Feuerwerk an Veranstaltungen wurden übers Wochenende die Zürcher Festspiele 2010 eröffnet. Im Zentrum stand der Komponist György Kurtág. Mit «Salome» von Strauss setzte das Opernhaus Zürich seinen eigenen Akzent.

Sie sehen sich zu viel an. Narraboth schaut Salome zu viel an, was den jungen Offizier in eine tödliche Sackgasse treibt. Salome wiederum schaut Jochanaan zu viel an, was für den Propheten ungeahnte Folgen hat. Herodes vor allem, er schaut Salome viel zu viel an, das bindet dem willensschwachen und darum willkürlich agierenden Herrscher vollkommen die Hände. Nun gut, es gibt auch etwas zu sehen in der neuen Inszenierung von «Salome», die das Opernhaus Zürich als Beitrag zu den Zürcher Festspielen 2010 herausgebracht hat. Einen Lidschlag lang ist die Titelheldin doch tatsächlich à poil – oder ist es doch nicht sie?

Sprechgesang

Zuallererst gibt es in dem noch immer anstössigen, weil viel zu opulent orchestrierten Einakter von Richard Strauss aber etwas zu hören. Nämlich, zum Beispiel, das Orchester der Oper Zürich, das hier zu ganz grosser Form auffährt – und das dank dem souveränen, lebenslange Erfahrung spiegelnden Wirken des Dirigenten Christoph von Dohnányi. Meisterhaft spielt der Achtzigjährige auf der Klaviatur, die ihm hier geboten wird. Wie auf einer Riesenorgel, die er mit dem kleinen Finger zu kontrollieren scheint, die er aber dann und wann aus dem Käfig lässt – und das dergestalt, dass man einmal mehr denkt, das Haus mit seiner trockenen Akustik sei für diese Partitur wohl doch zu klein. Gleichwohl, exzessive, mithin schmerzhafte Lautstärke gibt es nicht, dafür aber die herrlichsten Farbenspiele, überraschende Lineaturen, getupfte und gleich wieder zurückgenommene Akzente.

Von den Sängern konnten da nicht alle mithalten. Einmal aus seinem Verliess heraufgefahren, begegnete Egils Silins, ein prachtvoller Jochanaan, dem Orchester auf Augenhöhe; sang er hinter der Bühne, ging er in den instrumentalen Wogen unter. Schlicht überfordert war Christoph Strehl (Narraboth); statt sie zu gestalten, versah er seine Eingangspassage, in der er die Schönheit der Prinzessin Salome besingt, mit zwei geschmacklosen Schluchzern. Stimmlich untadelig Dalia Schaechter in der Partie der Herodias, deren berechnende Kälte zu grossartiger Zuspitzung fand. Während Rudolf Schasching für den tollen Herodes eine Idealbesetzung wäre, hätte er etwas mehr Stimme. So arbeitete er mehr mit den Mitteln des Sprechgesangs und schöpfte er eher aus dem Darstellerischen, das aber grandios. Und machte er aus diesem Tyrannen, der in jede Frucht, deren er habhaft zu werden vermag, sofort hineinbeissen muss, die heimliche Hauptrolle des Abends.

Das gilt umso mehr, als Grun-Brit Barkmin in der Titelpartie nicht eben Festspiellaune aufkommen liess. Das Timbre der deutschen Sopranistin wirkt eher flach und monochrom, es fehlt an Oberton und damit an Glanz, aber auch an einem Schuss kehliger Sinnlichkeit, die für die Gewaltspartie der Salome unbedingt erforderlich ist. Vor allem fehlt es der Sängerin an Kraft, was sich an der Premiere in unüberhörbaren Intonationsproblemen niederschlug – hätte der Dirigent da nicht doch ein bisschen mehr Rücksicht zu nehmen gehabt? Denn dort, wo sie stimmlich bei sich war, etwa im trotzigen Aufbegehren gegenüber Herodes, vermochte diese Salome durchaus zu packen.

Besonders eindrücklich gelang der Sängerin jenes Einbringen von Momenten des Sprechgesangs, auf das Dohnányi so viel Wert legt. Tatsächlich kann einem bei dieser Produktion bewusst werden, in welch hohem Mass «Salome» zum Sprechgesang neigt, wie sehr das Stück in den Bannkreis der Moderne nach 1900 gehört. Und dann, ach ja, hat Salome auch zu tanzen. Grun-Brit Barkmin meisterte den Schleiertanz zusammen mit einem ungenannten Double, von dem man annehmen kann, dass es sich um Silvia Schori handelt, die als choreografische Mitarbeiterin genannt ist. Dass dabei nackte Haut zu sehen sein würde, darauf hätte man allerdings fast wetten können.

Ausstattungstheater

Denn Sven-Eric Bechtolf, der Schauspieler, Regisseur und designierte Schauspielchef der Salzburger Festspiele, greift nach allem, was naheliegt. Wo war doch gleich die Inszenierung, bei der man beim Schleiertanz nur den lüsternen Herodes, Salome aber gar nicht gesehen hat? Bei der es knisternde Erotik gab, allein durch das hinreissende Orchesterzwischenspiel vermittelt? In dieser neuerlichen Zürcher «Salome» knistert gar nichts, hier gibt es Ausstattungstheater – das aber vom Feinsten. Rolf Glittenberg hat ein Halbrund auf die Bühne gestellt, das im Hintergrund durch eine gestaffelte Wand einen Einlass bietet und das von einem Ledersofa enormen Ausmasses geprägt wird – Metapher für die Megalomanie, die Herodes pflegt, und zugleich ein Bühnenort für effektvolle Bilder. Konventionell, aber hübsch die Kostüme von Marianne Glittenberg, attraktiv die von Jürgen Hoffmann besorgte Lichtführung. Eine Formung von Figuren, Theater im eigentlichen Sinn also, oder gar ein interpretierender Zugriff, das findet sich nur in Spurenelementen; wer denn diese Salome sei und was sie treibe, ob da eine verzogene Prinzessin oder eine fleischfressende Lolita, eine Lulu avant la lettre ihr Unwesen treibt, dazu scheint der Regisseur höchstens privat eine Meinung zu haben. Auch gut.