Tote küssen nicht

Joachim Lange, kultiversum (21.06.2010)

Salome, 19.06.2010, Zürich

In Martin Kusejs Vorgängerinszenierung der «Salome» in Zürich hieß es: Seelenland unter. Da war der Welt der Boden unter den Füßen weggebrochen, durchsetzt von Fallgruben ins Nichts; da hingen die tödlichen Obsessionen mit den Wunden der Welt zusammen. Jetzt, in der Inszenierung von Sven Eric Bechtolf, bleibt die Welt so gut wie ganz aus dem Spiel. Und aus dem Boden fahren höchstens mal fünf Käfigtürme in die Höhe, die wohl das Gefängnis Jochanaans sein sollen, gleichwohl nicht verschlossen sind. Sie changieren zwischen konkretem Ort und behaupteter Bedeutung. So wie der ganze fast sterile Raum, den Rolf Glittenberg gebaut hat, sich zwischen angedeuteter Arena für ein Rodeo der Leidenschaften und Palasthof verliert.

In diesem weiten, hinten geöffneten Halbrund mit den roten Wartesaal-Sitzbänken ringsum wird die Absage an eine tragende Idee zu einem Raum. Er ist nicht Teil der Lösung, sondern er avanciert zur Aufgabe, ihn auszufüllen. Das immerhin gelingt dem Regisseur sogar mit einem erkennbaren Bemühen um Genauigkeit im Detail. Da will einer zumindest die Obsessionen der einzelnen Figuren sichtbar machen, so gut wie jede Bewegung aus der Musik herleiten, und die Figuren aufeinander reagieren lassen. Vor allem der bis zur Herodias-Furie aufdrehenden Dalia Schaechter und dem wuselig lebensgierigen Herodes von Rudolf Schasching gelingt das auch. Der mit langen Haaren und zerschlissenem Mantel statisch auftauchende Jochanaan hat dazu weniger Chancen, wobei Egils Silins immerhin mit imponierender Kraft fundamentalistisch losdonnert.

Bei Gun-Brit Barkmins selbstbewusster Salome wird etwa der Kuss, mit dem sich der Page vom toten Narraboth (Christoph Strehl) verabschiedet, offenkundig zum Auslöser für einen Obsessionsschub, der letztlich in der Enthauptung Jochanaans mündet. Die dekadent bunt gestylte Gesellschaft aus Dandys, die Herodes umschwirrt, bleibt Staffage, die aggressiv streitenden Juden kommen über Kaftan-Klischees nicht hinaus (Kostüme: Marianne Glittenberg). So laviert sich Bechtholf kleinteilig durch die Geschichte, um dann am Tanz der Salome zu scheitern. Als gedoubelter Bauchtanz mit Hüftschwung, wechselnden Kostümen und einer Sekunde Nacktheit vor Herodes wirkt der in seiner Konventionalität eher unfreiwillig komisch. Am Ende blitzt dann noch einmal eine von den kleinen Ideen auf. Da ist es nämlich der Page, der das «Man töte dieses Weib» ausführt, weil die Soldaten sich weigern. Salome rennt mit offenen Armen auf ihn zu. Für sie ist die Liebe und der Tod schon lange eins.

Den große Wurf, der dieser «Salome» szenisch fehlt, vermag immerhin Christoph von Dohnányi am Pult des Zürcher Opernorchesters beizusteuern, manchmal bis über die Möglichkeiten der Protagonisten, doch stets mit einer ausdifferenzierten Transparenz, aufleuchtender Farbigkeit und dunkler Leidenschaft.