Tobias Gerosa, St. Galler Tagblatt (21.06.2010)
Oper Szenisch kühl, musikalisch grossartig: Das Opernhaus Zürich beschliesst die Saison mit einer neuen Salome als wahres Musikdrama.
Was für eine Oper! Sie dauert nicht einmal zwei Stunden, lässt inzestuöse Krisen auf religiöse Überzeugungen prallen und verhandelt Sex und Macht in narkotisch schöner Musik. Als Richard Strauss 1905 seine Oper auf Oscar Wildes Drama «Salome» herausbrachte, war sie ein Skandal – aber einer, den alle sofort nachspielen mussten. Trotz oder gerade wegen des «unsittlichen Themas».
Ungewohnte Besetzung
In der Neuinszenierung am Opernhaus Zürich findet das Drama zuerst in der Musik statt und mit einer fulminanten Besetzung. Gun-Brit Barkmin ist eine auf den ersten Blick untypische Salome: Eine jugendlich wirkende Sopranistin mit klarer, gut fokussierter Stimme ohne grosses Vibrato. Sie ist eine Sängerin, bei der man (fast) jedes Wort versteht und die vor allem auch eine Darstellerin ist. Auf demselben Höchstniveau spielt und singt Rudolf Schasching einen erschreckend zerrissenen König Herodes.
In Sven-Eric Bechtolfs Regie überzeugt die Genauigkeit auch der kleineren der Figuren und ihrer Beziehungen. Rolf Glittenbergs helle, halbrunde Bühne kann Burghof oder Amphitheater sein, ein Aussen gibt es scheinbar nicht; wenn Jochanaan aus der Zisterne geholt wird, fahren Käfige aus dem Boden (und unlogisch selbständig wieder zurück). Diese «Salome» überlässt die schwüle Exotik der Musik und gibt sich äusserlich zurückhaltend, ja elegant wie Marianne Glittenbergs Kostüme. Sie spielt im Irgendwo eines halbprivaten Raumes, der eben auch heute bei uns sein könnte. Allerdings lässt sie damit auch etwas kalt und man vermisst eine übergreifende Interpretationsidee. Kein Vergleich mit der beklemmenden Endzeit der letzten Zürcher «Salome» (Martin Kusej, erst vor zehn Jahren).
Strauss-Spezialist Dohnanyi
Immerhin schafft die Regie Raum für die Darsteller und für die Musik. Dirigent Christoph von Dohnanyi erweist sich einmal mehr als Strauss-Spezialist, bei dem einfach alles zusammenstimmt. Er zaubert ungehörte Feinheiten aus dem sehr gross besetzten Orchester, baut fast schmerzhafte Spannung auf und lässt den Sängern ungehört viel Raum für die Textgestaltung – mit Gewinn für die Gesamtwirkung, weil er auch den grossen Aufschwüngen nichts schuldig bleibt und die weiten Bögen zu spannen versteht, die szenisch bei aller Ästhetik und Exaktheit etwas fehlen.
Fulminante Sopranistin
Doch die Inszenierung hat Barkmin und Dohnanyi. Vielleicht ist die Schlussszene weniger auftrumpfend gesungen als üblich, wie das Orchester aber das Innere Salomes abbildet und wie Barkmin Salomes Erregung zwischen Monstrosität und naiver Kindlichkeit spürbar werden lässt, macht diesen Saisonabschluss zu einem Saisonhöhepunkt.