Michelle Ziegler, Neue Zürcher Zeitung (16.09.2010)
Calixto Bieito inszeniert am Theater Basel Giuseppe Verdis «Aida»
Wieder einmal verblüfft Calixto Bieito am Theater Basel – und dies nicht nur einmal, sondern gleich doppelt. In den ersten beiden Akten von Giuseppe Verdis «Aida» zeigte er viel Blut und viel nackte Haut. Das erstaunt nicht bei dem katalanischen Regisseur, der mit seinem als Brutalo inszenierten «Don Carlos» am Theater Basel vor vier Jahren für einen kleinen Skandal sorgte und der mit den Folgeverpflichtungen immer wieder die Gemüter erhitzt hat. Beklemmend wirkt seine Interpretation der «Aida» in den ersten beiden Akten indessen, indem sie das Brutale mit Liebkosungen verknüpft, das Exotische als Konsumgut präsentiert und die menschliche Sensationslust direkt und gnadenlos vorführt. Mit zusätzlich eingefügten narrativen Nebensträngen und -figuren spürt Bieito den widerlichen Seiten unserer Spezies nach und zeichnet ein düsteres Bild, in dem Wärme zwischen Menschen unmöglich ist. Seine Kritik aber legt gleichzeitig die Doppelmoral seines Theaters offen: Bieito erregt als Regisseur mit «Sex and Crime» Aufmerksamkeit, kritisiert aber gleichzeitig die Gesellschaft dafür, eben diese oberflächlichen Showeffekte mit blinder Gier zu konsumieren.
Gesellschaftskritisch und politisch
Nach der Pause folgt jedoch die Überraschung, wenn Bieito plötzlich gänzlich auf die Opernintrige fokussiert. Kahl ist hier der Bühnenraum, klein und alleingelassen wirken die drei Hauptpersonen. Damit reflektiert Bieito Verdis Anlage des dritten und vierten Aktes, in der sich das dramatische Geschehen nach der Art eines Kammerspiels entwickelt und die Personen vereinsamen. Bei Verdi spielt sich das in der offenen Natur ab, bei Bieito ist es ein verlassenes Stadion mit leeren Tribünen. Mit diesen völlig unterschiedlich behandelten Hälften kann Bieitos «Aida» gesellschaftskritische Belange eindrücklich weitergeben, ohne dabei das Tiefgründige und Quälende auf der zwischenmenschlichen Ebene zu vernachlässigen.
Es ist nicht schön anzusehen, was sich im ersten und zweiten Akt auf der Bühne (Bühnenbild: Rebecca Ringst) abspielt. In einem mit Bannerwerbung und Tribünen bestückten Stadion schlachtet der Priester Tiere und entnimmt ihnen die Eingeweide. Elegant gekleidete Zuschauer (Kostüme: Ingo Kügler) diffamieren die im Stadion zusammengepferchten Besiegten, indem sie ihnen Essensstücke zuwerfen. Fettleibige Frauen entledigen sich ihrer Bademäntel und versuchen mit klobigen Bewegungen, einer Bauchtanzlektion zu folgen. Eindrücklich wirkt der Moment, in dem die Masse im Stadion von einem Moment zum nächsten vom passiven Publikum zum blutrünstigen Mob wird, der einen Mann zu Tode prügelt. Unverhohlen und eindringlich führt Bieito menschliche Grausamkeiten vor.
Fabelhaftes Ensemble
Verdis «Aida» liegt Bieito nicht nur aufgrund der Thematik kriegerischer Völker und kultureller Differenzen, sondern auch aufgrund ihrer Bekanntheit im Publikum. Mit dieser spielt er, wenn er einen Ausschnitt der Hymne auf Ägypten aus dem zweiten Akt an den Anfang der Oper stellt oder mit tanzenden Kindern zu Beginn den «Tanz der kleinen Mohrensklaven» vorwegnimmt. Doch die mit Aida spielenden Kinder sind durch Trachtenelemente als Schweizer gekennzeichnet: Das Exotische wird nicht wie bei Verdi als Fremdes vorgeführt, thematisiert wird vielmehr der Schweizer Blick auf das Fremde – wie die Kopftuch tragenden Frauen.
Im dritten und vierten Akt legt Bieito den Akzent auf psychologisch stark gezeichnete Figuren; einzig Radamès bleibt seltsam gesichtslos. Angeles Blancas fesselte als Aida in der Premiere mit ihrer flexiblen und warmen Stimme, Michelle De Young als dominante Amneris. Stimmlich wie schauspielerisch überzeugte Alfred Walker in der Rolle des Amonasro und Daniel Golossov als Ramfis. Unter der Leitung von Maurizio Barbacini agierte das Basler Sinfonieorchester nicht überall ganz präzise und durchsichtig, schaffte jedoch gerade in den Chorszenen mit Raumeffekten eine stimmige Klangbalance.