Tobias Gerosa, St. Galler Tagblatt (16.09.2010)
Hooligans, Kinderarbeit, Folter, Triumphmarsch: Calixto Bieito schürft im Theater Basel tief unter die Oberfläche von Giuseppe Verdis «Aida». Die Wirkung ist eindrücklich.
Es gibt kein Ägypten im Theater Basel. «Aida» spielt im Stadion und beginnt also mit der Stadionhymne schlechthin: dem Triumphmarsch aus dem zweiten Akt. Sport ist Krieg mit andern Mitteln; ob fanatisierte Massen zu den aufwiegelnd-simplen Chören Verdis gegen Äthiopien oder den FC Äthiopien ziehen, macht nur einen graduellen Unterschied in dieser martialischen Welt, wo der einzelne in der Masse aufgehen muss, will er nicht untergehen.
Während Kinder im Akkord die Flaggen der Fans nähen, müssen die Gefühle der Kinder- und Wäschefrau Aida, der verwöhnten Amneris und Radames scheitern – in dieser Analyse ist Regisseur Calixto Bieito noch radikaler hoffnungslos als das todtraurige Ende von Verdis Musik.
Keine Heldenfiguren
Da kann Radames kein strahlender Held sein.
Sergej Khomov wirkt im grauen Anzug eher wie ein Bürolist, er versucht gar nicht, wie ein Heldentenor zu klingen, und überzeugt dafür mit überlegten Phrasen. Michelle DeYoungs Amneris ist konventioneller, aber souverän im Einsatz der Mittel. Das kann man von Angeles Blancas, der Aida, nicht sagen. In ihren beiden grossen Szenen hat sie eigenartige Atemprobleme – aber ihre Figur hat Format, da wirft sich eine Sängerin in die Rolle.
Musikalisch zerfällt die Aufführung in zwei Hälften. Dirigent Maurizio Barbacini (der in St. Gallen die «Traviata» leitete) bleibt in den ersten beiden politischen Akten der Musik einiges an Aggressivität und Biss schuldig und hat Koordinationsprobleme. Schlimmer wiegt aber die damit entstehende Diskrepanz zur Bühne.
Nach der Pause ändert das. Wo viele «Aida»-Inszenierungen durchzuhängen beginnen, trägt die Anlage hier dank Regiekonzept und Ausführenden.
Wo die Figuren und ihre Gefühle ins Zentrum der Oper rücken, funktioniert auch Barbacinis musikalische Feinzeichnung.
Am 1. Oktober live am Rhein
Oft hat man «Aida» als Stadionoper missverstanden. Mit Bieitos fanatisierten Massen kommt sie wieder dahin zurück – aber von der erschreckenden Rückseite. Nach dieser Inszenierung kann man in keinem Stadion mehr den Triumphmarsch mitsingen.
Es ist nicht ohne Ironie, wenn ausgerechnet diese Besetzung in zwei Wochen eine aufwendige Fernseh-Live-«Aida» unter freiem Himmel am Rhein gestaltet – allerdings nicht in Bieitos, sondern in Georges Delnons Regie.