Ägypten ohne Pyramiden

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (16.09.2010)

Aida, 14.09.2010, Basel

Giuseppe Verdis grosse Oper «Aida», neu aufgetischt am Theater Basel

Nach 30 Jahren leistet sich das Theater Basel eine neue «Aida». Die Premiere löste Begeisterung für die Sänger und Kontroversen über die Regie aus.

Man liebt ihn oder liebt ihn nicht, den im heutigen Theater obligaten Zwang, die alten Geschichten immer wieder neu und anders zu erzählen. Diesmal die Oper «Aida» von Giuseppe Verdi (1871), die von der aussichtslosen Liebe eines ägyptisch-äthiopischen Paars in Kriegszeiten handelt – eine Liebe, die politisch so unmöglich ist wie die von Romeo und Julia.

Eigentlich eine Geschichte ohne Moral, ohne Gut und Böse, in der eine liebeshungrige und zum Verzeihen fähige Pharaonentochter Amneris und ein ebenso gütiger wie kriegswilliger Vater Amonasro neben dem Liebespaar Aida und Radames Hauptakteure sind. Eine Geschichte von Verrat und tödlicher Bestrafung, auch von dunkler Xenophobie: «Tod den Fremden!», ruft der ägyptische König im ersten Akt aus, und das Volk fällt mit brachialer Stimmgewalt in seinen Ruf ein.

ARENA. Für den katalanischen Regisseur Calixto Bieito, Stammgast am Basler Musiktheater, ist diese Botschaft zentral. Deshalb stellt er vor die Ouvertüre einige Takte aus dem zweiten Akt mit seinem martialischen «Gloria»-Chorgeschrei. Er sieht viel Aggression und Fremdenhass in unserer Zeit und projiziert diese Affekte via Oper aus dem späten 19. Jahrhundert ins ägyptische Altertum. Um seine Message zu akzentuieren, wählt er das Mittel der Aktualisierung, selbst um den Preis der Willkür.

Wo bleibt da Ägypten? Das Ganze spielt in einer von Werbung vollgepflasterten Sportarena, in der die äthiopische Sklavin Aida mit Schweizer Kindern Ball spielt, während der Feldherr Radames sein Lob auf sie singt («Celeste Aida…»). Anstelle eines Handballturniers erleben wir eine Tragödie. Ein Grenzwächter mit Deutschem Schäferhund sorgt für Zucht und Ordnung und scheut vor keiner Gewalttat zurück. Wir haben eine pluralistische, multikulturelle Gesellschaft voller Brüche und Spannungen vor uns, in welcher die Behinderten integriert sind und zivilisierte Kräfte unverbunden neben archaisch-roher Brutalität stehen. «Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen», wie der Philosoph Ernst Bloch sagte.

ZITAT. Der wie ein Medizinmann aus dem Fantasy-Film gezeichnete Oberpriester Ramphis praktiziert heidnische Tieropferrituale, während ein katholischer Priester bald Luftdirigate ausführt, bald den Flaggen nähenden Kindern (Achtung: Kinderarbeit!) lasziv den Haarschopf streichelt (Achtung: Pädophilie!), bald in fundamentalistischem Eifer die Werbebanner herunterreisst. Es gibt Bauchtanz und ein Zitat der Frankfurter «Aida»-Inszenierung von Hans Neuenfels 1981: Den ausgehungerten äthiopischen Gefangenen werden Brotstücke zugeworfen wie Tieren im Zoo. Das Regietheater ist inzwischen selbst Geschichte und zitierfähig.

Die ägyptischen Herren ähneln den Diktatoren südamerikanischer Polizeistaaten, wobei der Heerführer Radames in seiner Kluft ausgesprochen (und absichtsvoll) derangiert wirkt. Schon der Textdichter Ghislanzoni zeichnete ihn bei allen militärischen Leistungen blass, und in der Basler Aufführung ist er es gleich nochmals. Auch ein Schuss Guantánamo kommt in der überreich bebilderten Inszenierung vor – am Ende des zweiten Akts klettern die halb nackten äthiopischen Gefangenen, unter ihnen Aida, verzweifelt ein Absperrgitter hoch. Später wird die Prinzessin, von Heimweh zermürbt, zur Whiskyflasche greifen. Die Verlorenheit zwischen Depression und Überschwang wird im dritten Akt derb bebildert – ihre Fluchtpläne feiern Aida und Radames durch enthemmtes Werfen mit WC-Papierrollen (Bühne: Rebecca Ringst).

OPFER. Was Calixto Bieitos Regie mühelos leistet, ist die Zuspitzung der Figurenzeichnung. Was sie nicht schafft, ist ein Opernerlebnis, das ganz von der Kraft der Musik und des Textes lebt. Manches wirkt da doch angeklebt, äusserlich aktualisiert und nicht aus der Geschichte entwickelt. Bieitos «Don Carlos» und seine «Lulu» waren stärker. Die sängerische Besetzung darf man indes preisen. Aida ist in der Verkörperung durch die jugendlich strahlkräftig und geradlinig (aber nicht immer intonationsgenau) singende Angeles Blancas klar das moralisch reine Opfer. Eine Sympathieträgerin ist auch ihre Rivalin Amneris (mit erst leicht flatterndem Mezzo, aber sich grossartig steigernd und am Schluss ganz stark: Michelle De Young) im immerwährenden Brautkleid. Am Ende wird sie vom übereifrigen Grenzwächter (Karl-Heinz Brandt) geradezu gekreuzigt und haucht ihr Schluss-«Pace» verblutend hin.

Sergej Khomov singt den Radames ohne Fehl und Tadel, allerdings im Dauer-Mezzoforte noch ein wenig einförmig. Als Oberpriester Ramphis erlebt man die mächtige Gestalt und nicht immer mächtige Stimme von Daniel Golossov, als Vater Amonasro in einer szenischen wie musikalischen Glanzbesetzung den fülligen, klar zeichnenden Bariton von Alfred Walker. Dass er die Szene gedemütigt in einem Käfig betritt, ist ein superber Regieeinfall.

KONTROLLE. Das Schwierige an «Aida» sind nicht die Chorszenen, die dank der ausgezeichneten Arbeit von Theaterchor und Extrachor (Leitung: Henryk Polus) jederzeit kontrolliert wirken. Heikler sind die Ensembleszenen, und da darf die musikalisch von Maurizio Barbacini geleitete Produktion mit dem durchwegs, vor allem in den Streichern und Holzbläsern, kultiviert spielenden Sinfonieorchester Basel noch an Feinheit zulegen. So einnehmend der schneidend scharfe, kaum einmal im Piano gehaltene Aida-Sopran von Angeles Blancas in ihren Soli ist, so dominant wirkt er in den Duetten. Auch Michelle De Young, die grossartige Amneris, ist in ihren Soli stärker als in den Ensembles. Die messerscharf aufspielenden «Aida-Trompeten» verfehlen ihre Wirkung von den Balkonen herunter nicht.

Am Ende ein Widerstreit von Bravi und Buhs, ohne den der sympathische Provokateur Calixto Bieito wohl denken würde, er habe etwas falsch gemacht.