Tom Hellat, Tages-Anzeiger (16.09.2010)
Seine Inszenierungen schonen niemanden, aus Opern macht er Schocker. Tabubrüche, bis zur Unerträglichkeit konkrete Bilder, Sex und Gewalt: Calixto Bieito überlässt nichts der Fantasie. Und auch Verdis «Aida» am Theater Basel hat er es so richtig besorgt. In der Exoten-Oper packte der katalanische Regisseur die Gelegenheit beim Schopf, die Unmöglichkeit einer Liebe mit den Farben von Blut, Schmutz und Elend auszumalen.
So wird Verdis Bote zum Securitas-Wächter mit Schlagstock und der Chor zur prügelnden Hooligan-Meute im Stadion. Man sieht fahnenschwingende Mitläufer und dekoratives Sklavenmisshandeln – nicht zu vergessen die toten Tiere und deren Eingeweide.
Bieito will den Dreck der Realität in die Oper holen. Das Leben, brüllt er einen an, ist brutal und schmutzig, und eure scheissschöne Musik ändert das nicht. Aber um das zu sagen, braucht er die Musik doch. Und sie hält es aus, vielmehr: Sie zieht sich vor den Obszönitäten nicht zurück, sondern wirkt umso gewaltvoller. Da können drei Abschlussakkorde Faustschläge sein wie im Duett des Radamès und der Amneris; der Triumphmarsch wird zum gequälten Mitgröl-Schlager.
Nicht mitgrölen, aber mittanzen tut da ein Transvestit. Im Minirock, silbernen High Heels und mit wallend roter Mähne bewegt er sich in überdrehter Ausgelassenheit. Wie eine entfesselte Puppe tobt er sich aus bis zur Erschöpfung und findet Vergnügen an den brutalen Massenquälereien. Knapp drei Stunden später wird er sich als todkranker Geist wieder auf die Bühne schleppen. Nun hat er ausgetanzt, und sein trostloser Kahlkopf scheint zu sagen: «Hier hat niemand mehr das Recht, auch nur ein Haar Glück zu tragen.» Denn die Menschen, die jetzt noch auf der Bühne singen, sind erniedrigte und gescheiterte Existenzen: Amneris’ Eifersucht hat den Blutrausch ausgelöst, Radamès ist mit Aida lebendig begraben.
Der Transvestit ist nur eine Nebenfigur – er sagt nichts, singt nichts, aber er ist fast immer da, als eine Art Verkörperung von Calixto Bieitos Musiktheater, die sich neben der Musik eine eigene Realität schafft. Mal schillernd, mal überdreht und immer schonungslos drastisch und grell.
Die Musik bläst da unter der Leitung von Maurizio Barbacini mit transparenter Intensität ins gleiche Horn. Zart-flirrend die geteilten Sordino-Geigen des Vorspiels, filigran die Figurationen der Holzbläser in den Arien, etwa die klagende Oboe in der hymnischen Romanze wie in Aidas Nil-Arie. Dass es hie und da mal einen Wackler gab, war eher Beweis dafür, dass die Spannung einer Aufführung in dem Masse wächst, wie sie Risiken in Kauf nimmt. Herausragend ist die Amneris von Michelle De Young, stimmlich reich und voluminös, aber sensibel phrasierend und voller Ausdruck. Auch die geradlinige Stimme von Angeles Blancas Aida ging unter die Haut. Und Sergej Khomov als Radamès fehlte – der Inszenierung wegen – die Aura des sieghaften Feldherrn. Vielmehr wird er von der Regie zum Schwächling depotenziert. Seine Stimme aber ist kräftig.
Und was ist mit der Liebe? Sie geht in diesem Gewaltrausch fast unter. Nur im Tod findet sie Erlösung. Da huscht auch über das Gesicht des Transvestiten so etwas wie ein Lächeln.