Krieg zum Vergnügen

Dennis Roth, klassik.com (16.09.2010)

Aida, 14.09.2010, Basel

Ein historisches Dokument des ausgehenden 19. Jahrhunderts, des Kolonialismus und der Faszination der Europäer für alles Orientalische, ein historistisches Werk, das nicht über sich selbst hinausweise, sei Verdis 1871 im Opernhaus Kairo uraufgeführte Oper 'Aida', zudem ein bloßes Schaustück, verwandt mit Hollywood-Monumentalwerken wie „Cleopatra“ oder „Quo Vadis“. Und das Ägyptische? Lediglich Dekor, Kostümierung. So lautet eine weit verbreitete Meinung.

Was macht nun Calixto Bieito am Theater Basel mit dem knapp dreistündigen Werk? Er reißt 'Aida' ihre ägyptische Maske vom Gesicht – und zum Vorschein kommt eine Kriegsfratze. In der ersten Hälfte, welche die ersten beiden Akte umfasst, definiert der Regisseur mit schlagender Klarsicht, was Krieg bedeutet, gemäß seiner im Programmheft formulierten Erkenntnis von der „apokalyptischen Neigung der Menschheit zur Grausamkeit“ – und wie man es von Bieito kennt, tut er dies handwerklich auf hohem Niveau, gedanklich kompromisslos, mit Gespür für angemessene Drastik und bühnenwirksame Körperlichkeit und im Ergebnis erschütternd.

In der Pause schnappt man auf: „So ist der Krieg.“ Weshalb? Da ist zunächst die Archaik des Rituals: Daniel Golossov gibt mit kraftstrotzendem Bass den ägyptischen Oberpriester Ramfis, der mit seiner Körperbemalung wie ein Inka-Krieger wirkt, in toten Tieren wühlt und in ihren Eingeweiden liest: jene Irrationalität, mit welcher der Mensch sein kriegerisches Vorhaben zu legitimieren, ihm einen höheren Sinn zu verleihen sucht. Hinzukommt – im Verbund mit einem krassen, bereits im Libretto formulierten Rassismus – die Selbstvergewisserung der Nation: Kleine Mädchen nähen an den Flaggen europäischer Staaten und schreiben damit gleichsam den nationalen Mythos fort.

Die Inszenierung legt es jedoch, bei aller Loslösung vom Eindeutig-Historischen, nicht auf eine vollkommene Abstrahierung des Gegensatzes zwischen Ägypten und Äthiopien an, sondern verortet das Geschehen in einer universell gültigen Gegenwart (die hier eine schweizerische ist, wie die an den Seiten prangenden Werbebanner von Ricola und Basler Zeitung nahelegen). Szenisch verweist auf Ägypten lediglich eine Kopfbedeckung à la Tut-ench-Amun, als sei sie Teil eines Karnevalskostüms – die sich der Chor denn auch vom Kopf reißt wie später Radamès (gesanglich routiniert, aber darstellerisch blass: Sergej Khomov). Orientalismus kommt nur als Klischee vor: beim bewusst banal gehaltenen Tanz der zwanzig Schleier. Auch die hybriden Kostüme Ingo Krüglers tragen zur Vergegenwärtigung bei. Da trägt der König der Ägypter (solide: Andrew Murphy) die Uniform eines südamerikanischen Commandante, steht ein katholischer Priester in vollem Ornat Ramfis zur Seite, hüpft eine Leichtbekleidete wie eine Hure mit Engelslocken über die Bühne, treten Offizier und Bote (mit Schäferhund) breitbeinig auf wie Militärpolizisten und die Männer im geradezu furchteinflößend wuchtigen Chor (Ltg.: Henryk Polus) tragen Anzug und Krawatte – jedenfalls vorerst. Denn zum Krieg gehören auch der Trieb und das Vergnügen der Sieger, und dieser Facette gewinnt Bieito die eindrücklichsten, brutalsten Bilder ab.

Das siegreiche Volk sitzt auf Tribünen, eine Fläche umschließend, die mit ihren beiden hoch-schmalen Seiteneingängen einer Stierkampfarena ähnelt (Bühne: Rebecca Ringst); die Männer freilich schon bald mit entblößtem Oberkörper und lüsternem Blick, die Opfer verhöhnend, mit Obst bewerfend und schließlich sexuell auf sie übergreifend: Denn unten wälzen sich die besiegten Äthiopier blutverschmiert auf dem Boden, Männer, Frauen, Kinder, eines streckt die Hand über den Orchestergraben aus, das Publikum mit weit aufgerissenem Mund anflehend. Das bestens disponierte Sinfonieorchester Basel unter der Leitung von Maurizio Barbacini lässt auch unter den härtesten Tuttischlägen den humanen Gehalt von Verdis Musik durchscheinen; den berühmten Triumphmarsch – vier Musiker mit den einventiligen Aida-Trompeten auf den Rängen – enthüllt es als klingende Propaganda. Krieg als Event, als Volksbelustigung.

Unter Johlen wird ein Käfig hereingefahren. In ihm kauert Amonasro, König der Äthiopier, der sich als solcher aber noch nicht zu erkennen gibt. Alfred Walker verleiht ihm eine prollige Verschlagenheit, die im dritten Akt vollends zum Vorschein kommt und deutlich macht, dass er kein Deut besser ist als seine Feinde. Im dritten Akt (dem 'Nilakt', der ohne Nil auskommen muss) zwingt er seine Tochter Aida, die Sklavin der Ägypter ist, ihrem ägyptischen Geliebten Radamès ein Geheimnis von strategischer Bedeutung zu entlocken. Aida befindet sich im Zwiespalt von Liebe und Pflicht, von Gefühl und Verstand. Denn auch davon handelt 'Aida': dass der Krieg die Liebe unmöglich macht. Angeles Blancas in der Titelrolle überzeugt mit einer Darstellung, die in jedem Augenblick glaubhaft und von bezwingender Emotionalität ist. Ihr sauber intonierter Sopran, der in der tiefen Lage bisweilen belegt klingt (auch ist die Atmung stets hörbar), strahlt in der Höhe eine beachtliche Intensität aus, derart jedoch, dass sie ihre Kollegen in den Ensembles regelmäßig übertönt. Mit ihrem Leiden ist sie nie allein, da die monumentalen und intimen Partien streng auseinanderdividiert und in zwei Blöcken präsentiert werden, was der Inszenierung eine gewisse Uneinheitlichkeit verleiht. So lauscht das in den ersten beiden Akten omnipräsente Kollektiv auf den Rängen Aidas emotionalen Entäußerung ebenso wie das (zufriedene) Basler Publikum. In der zweiten, konzentriert-intimen Hälfte, in welcher der Chor nur noch hinter der Bühne ertönt, gewinnt Michelle DeYoungs Amneris, die Radamès liebt, deutlich an Statur; ja in ihrem Leiden ist sie nicht weniger berührend als Aida selbst. Das Orchester greift nicht nur, mit kernigem Blech, beherzt zu, sondern begleitet die Sänger gefühlvoll, das Umschlagen der Affekte organisch gestaltend, ohne es zu glätten, und das Gespür für die Couleur locale ist insbesondere bei den duftig musizierenden Holzbläsern fulminant.

Am Ende wird ein Grab ausgehoben, für Radamès, der unbeabsichtigt zum Verräter geworden war und nun zum Tod bei lebendigem Leib verurteilt ist. Nur noch Kopf und Schulter sind sichtbar. Aida schleicht sich zu ihm. Doch selbst einen gemeinsam-einsamen Liebestod gönnt Bieito seinen Protagonisten nicht: Ein Soldat patroulliert, und auch der Priester beherrscht noch die Bühne. Liebe ist in Zeiten des Krieges nur denkbar im Jenseits.