Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (20.09.2010)
Über 75 Jahre sind es her seit der letzten Inszenierung: «Les pêcheurs de perles» ist eine Rarität. Jens-Daniel Herzogs aktualisierende Neuinszenierung kann indes nur halbwegs überzeugen.
«Carmen» gehört bis heute zu den meistgespielten Opern, entsprechend ist ihr Schöpfer Georges Bizet als der wohl bedeutendste französische Opernkomponist des 19. Jahrhunderts in die Musikgeschichte eingegangen. Doch dieser Erfolg (von dem Bizet übrigens nichts mehr hatte, da er genau drei Monate nach der Uraufführung starb) hat auch seine Kehrseite: Dass Bizet vor «Carmen» rund ein Dutzend weitere Opern komponiert hatte, ging bald einmal in Vergessenheit. Dass «Les pêcheurs de perles» wieder einmal am Opernhaus Zürich auftaucht, ist folglich zu begrüssen – die letzte Inszenierung fand vor einem Dreivierteljahrhundert statt.
Dreigeteilter Schiffsrumpf
Dabei hat auch diese Oper anerkanntermassen ihre Meriten. Nicht zuletzt der grosse Hector Berlioz schrieb in seiner Uraufführungskritik über Bizet: «Man wird sich genötigt sehen, ihn als Komponisten anzuerkennen.» Nach verschiedenen früheren Versuchen fand Bizet in «Les pêcheurs de perles» erstmals zu einer persönlichen Musiksprache. Sie zeichnet sich durch eine von Charles Gounod «ererbte» Melodienfülle aus, wobei dieser Melos eine ganz neue, lyrische Sensibilität aufweist – am deutlichsten hörbar im so genannten «Freundschaftsduett» zwischen Nadir und Zurga, das längst Wunschkonzert-Berühmtheit erlangt hat und die ganze Oper wie ein Leitmotiv trägt.
Hinzu kommt in dieser Oper, die im fernen Ceylon spielt, ein für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts typisches, weil beliebtes exotisches Kolorit. In heutiger Zeit allerdings, wo Ceylon als Gruppenreisen-Urlaubsdestination sozusagen in unmittelbare, also realistische Nähe gerückt ist, hat dieses exotische Kolorit seinen Zauber weitgehend eingebüsst. Wohl aus solchen Gründen verzichtet die Zürcher Neuinszenierung (fast) ganz darauf. Auf der Bühne ist einen ganzen Abend das Innere eines Schiffsrumpfes zu sehen (Bühnenbild: Mathis Neidhardt) und im Querschnitt dreigeschossig. Unten im Rumpf die arbeitende Masse der Perlenfischer, in der Mitte die Chefetage des Besitzenden und zuoberst die religiöse Sphäre der Priesterin Léïla. Die Chefetage lässt sich zudem in den Bühnenvordergrund vor- und wieder zurückfahren; der gesamte Schiffsrumpf lässt sich zudem auch so weit hinunterfahren, dass die ganze Arbeiteretage in der Versenkung verschwindet. Das ist nicht nur überzeugend konzipiert, sondern auch sehr praktisch aufgebaut und hat erst noch den Vorteil, dass die ganze Oper ohne Szenenwechsel in einem Zug durchgespielt werden kann. Es ist dies letztlich ein Spiel um Masse und Macht, wozu das Programmheft noch das sozialkritische Unterfutter liefert: dass die Menschheit «vermutlich schon seit dem Ende des Steinzeitalters» in eine Ober-, Mittel- und Unterschicht aufgeteilt war. Vermutlich ja – und Ziel von Jens-Daniel Herzogs Inszenierung ist es denn auch, eine Gesellschaftsordnung zu zeigen, die auf Unterdrückung basiert.
Zigaretten rauchen
Das passt, auf den ersten Blick, zum Umstand, dass der Chor in «Les pêcheurs de perles» eine Hauptrolle spielt. Auf einen zweiten Blick indes wird auch hörbar (respektive über deutsche und englische Übertitel lesbar), dass der Chor oft von ganz anderem singt als von Unterdrückung. In der Tat gibt es im Opernrepertoire weit einleuchtendere Beispiele für das verheerende Spiel von Masse und Macht. Entsprechend wirkt es hier, in Jens-Daniel Herzogs grundsätzlich akribisch differenzierter Inszenierung, aufgepfropft und bleibt weitgehend an der Oberfläche. Nüchterne Arbeiterrealität ist angesagt – aber wo bleibt, nach dem ersten Auftritt von Léïla, in ihren weiteren Szenen das Zauberhafte, Unfassbare, «Weltfremde» einer Priesterin? Auch sie wird in die Alltagsrealität hereingeholt, Zigaretten rauchend wie die anderen. Aber damit werden weder Tiefendimensionen einer inneren Befindlichkeit noch ein daraus resultierendes Handeln evident.
Bizets Musik indes lohnt die Wiederbegegnung mit «Les pêcheurs de perles». Eine farbenreiche Partitur, oft bemerkenswert leichtfüssig instrumentiert und mit delikater kammermusikalischer Ornamentik umflort. Dirigent Carlo Rizzi – für ihn ebenso die erstmalige Begegnung mit diesem Werk wie für alle beteiligten Sänger – hat durchaus ein Gespür für solche stilistischen Finessen, zeigt aber gleichzeitig eine Neigung zu einer Lautstärke, welche die Sänger, vor allem im ersten Akt, oft überdeckt.
Doch die Tempi sind idiomatisch erfühlt, und das Orchester der Oper Zürich zeigt ein waches gestalterisches Mitverantwortungsgefühl. Der von Jürg Hämmerli bestens einstudierte Chor der Oper Zürich ist seiner Protagonisten-Rolle mit klanglicher Fülle und dynamischer Differenziertheit vollauf gewachsen. Eigentlich ist diese Oper eine Dreiecksgeschichte: zwei Männer, die dieselbe Frau lieben samt Folgen. Der Tenor Nadir hat dabei die bessere Musik, ist in dieser Hinsicht zweifellos im Vorteil. Javier Camarena singt die Rolle zudem mit betörendem tenoralem Schmelz, vor allem in der äusserst schwierigen Arie «Je crois entendre encore», wo er mit einer berückenden voix mixte und vorbildlichem Legato-Gesang aufwartet. Ein respektables Rollendebüt. Franco Poponi verlegt sich als Zurga zu sehr auf ein eindimensional forciertes Singen, was seinen Bariton immer wieder unter Druck bringt. Pavel Daniluk verkörpert den Nourabad mit priesterlicher Autorität und profunder Bassesfülle.
Malin Hartelius steht als Léïla jene Leichtigkeit, mit der ihr Gesang so leicht aufzusteigen sollte wie ein Vogel (so heisst es im Libretto), nicht wirklich zur Verfügung. Das exotisch Priesterinnenhafte bleibt in ihren Koloraturen am Schluss des ersten Aktes ziemlich prosaisch, doch als liebende Frau bringt sie später alle Vorzüge ihres lyrischen Soprans wirkungsvoll zur Geltung. Ein berührendes Rollendebüt auch das.