Mit Engelsstimme und Zigarettendunst

Herbert Büttiker, Der Landbote (20.09.2010)

Les pêcheurs de perles, 18.09.2010, Zürich

Hat der «Carmen»-Komponist mehr als ein Erfolgsstück geschrieben? Das Opernhaus gibt die Antwort mit der szenisch wie musikalisch packenden und bejubelten Produktion von Georges Bizets selten gespielten «Les pêcheurs de perles».

Das Freundschaftsduett «Au fond du temple saint» von Nadir und Zurga (Tenor und Bariton) aus Georges Bizets erster abendfüllender Oper von 1863 gehört zu den populären Opernstücken seit Carusos Zeiten, und auch für die lyrisch bezaubernde Romanze des Tenors «Je crois entendre encore» haben die Tenöre in ihren «Best of»-Kollektionen immer wieder ihr schönstes Timbre zum Klingen gebracht und mit den subtilen Intervalleffekten für Hühnerhaut gesorgt. Und so viel vorweg: Javier Camarena, der junge mexikanische Zürcher Haustenor, hat die Zürcher Premiere eben damit zu seinem Triumph machen können.

So bekannt die Hits aus den «Perlenfischern», so selten sind Aufführungen der gesamten Oper – am Opernhaus Zürich gab es seit der Saison 1933/34 keine Inszenierung mehr. Die Oper hat denn auch einen schlechten Ruf; ein simpel gestricktes Libretto, von dem nicht einmal die Produzenten viel hielten, gilt als hauptsächlicher Grund dafür. Die Eifersuchtsgeschichte zweier Männer, die dieselbe Frau lieben und um ihrer Freundschaft willen beide auf ihre Liebe verzichten wollen, ist vordergründig in ein exotisches Ambiente verlegt.

Problembariton

Das ermöglicht zwar die Steigerung zum Pikanten insofern, als die angebetete Leïla tatsächlich als bloss anbetungswürdige, eben zur Keuschheit verpflichtete Priesterin auf der Bühne erscheint. Aber die Ferne Ceylons rückt eben auch die spannende Psychologie der Figuren in die Ferne, die in Bizets Musik unter der exotischen Oberfläche zu entdecken ist. Denn freilich ist der Freundschaftsschwur brüchig: Zurga (Bariton) verdrängt das Erlebnis in seiner despotischen Führeraufgabe unter den Perlenfischern, Nadir (typisch Tenor) lässt seiner Leidenschaft heimlich den Lauf und bricht das Gelübde bei der sich bietenden Gelegenheit.

Die tödliche Konsequenz der Entdeckung, Zurgas Eifersuchtsraserei und zu späte Einsicht, dass das Leben Nadir recht gibt – all dies hat Bizet vor allem in Duett- und grossen Chorszenen packend gestaltet. Insbesondere lässt sich der Bariton in seiner inneren Zerrissenheit und dem explosiven Potenzial unterdrückter Gefühle als Figur nahe bei der zwölf Jahre später komponierten «Carmen» verstehen. Das macht die Inszenierung mit ihrem psychologischen Blick auf die in die Nähe gerückte Figur deutlich, und Franco Pomponi bringt das mit markantem, allerdings auch gepresstem und intonatorisch leider allzu ungefährem Bariton darstellerisch aber äusserst intensiv über die Rampe.

Libretto über Bord

Bei Jens-Daniel Herzog (Inszenierung) gehen die Libretto-Geschichten oft über Bord (man erinnere sich an die Haydn-Oper im Sektenmilieu). Mathis Neidhardt hat ihm ein grossartiges Bühnenbild gebaut, das den Querschnitt eines grossen Schiffes zeigt, in der Mitte der Salon des Kommandanten, darunter die Halle, wo die Muscheln verarbeitet werden, darüber eine Plattform, auf der die ins Schiff gehievte Priesterin ihren eigenen Bezirk erhält. Die Beweglichkeit dieser Bühnenkonstruktion lässt auf raffinierte Weise die Fokussierung auf die eine oder andere Ebene zu, und das erhöht noch die ohnehin suggestive Kraft dieses Raumes.

Die Stahlkonstruktion und die Wände mit ihren Rostspuren, auch die kalte Neonbeleuchtung lassen den Schauplatz als unwirtlichen Lebensraum erscheinen, in der Unterdrückung und öde Arbeitsmoral herrschen – und die grosse Sehnsucht nach Schönheit und Liebe, die in einen seltsamen Kult abgedrängt werden: Leïla, in fernöstlich buntem Schleierkostüm in der sonst farblosen Welt (Kostüme: Sibylle Gädeke), ist die Projektionsfigur für diese Sehnsucht. Wie die Statue einer Göttin wird sie in den Schiffbau abgesenkt, von hymnischen Chören besungen.

Dass die Priesterin eigentlich eine «normale» liebesbedürftige und liebende Frau ist, zeigt sich, wenn sie sich nach ihrem Auftritt zurückzieht, sich des Kostüms entledigt und eine Zigarette anzündet: ein erhellender Coup der Inszenierung, den Malin Hartelius mit einer ungemein prägnanten Darstellung der Kontraste erhellt: Da die Aura der Unnahbaren, dort die nervöse, abgespannte junge Frau, da der melismatisch schwebende Sopran, dort die leidenschaftliche Melodik und auch dramatische Kraft der Stimme – eine wunderbare Rollengestaltung, die in den Duettszenen mit Nadir und dann vor allem mit Zurga unter die Haut geht.

Bestes Operntheater könnte man sagen, allerdings rund um einen wunden Punkt: Die Verse des «Perlenfischer»-Librettos lassen sich eben mehr schlecht als recht in den Schiffbauch zwängen. Dass die Szenerie zwar weit entfernt vom Fantasie-Ceylon ist, aber von geradezu riechbarer Realistik, macht die Ungereimtheiten nur umso drastischer. Allerdings täuscht der erste Eindruck, stilistisch geht es um mehr als eine Eins-zu-eins-Übersetzung der Geschichte in die Gegenwart.

Absurdes Theater und Kino

Der Chor der Fischer macht das gleich zu Beginn deutlich, wenn er im Takt der Musik und in monotoner Choreogafie ziemlich abstrakt hantiert – dabei aber mit durchbluteter Musikalität prächtig singt – und die Szenerie sogleich ins Surreale kippen lässt. Darauf muss man sich einlassen. Ein faszinierender Moment absurder Theater-Poesie ist so gesehen vor allem der Auftritt der Leïla, und mit dem Oberpriester Nourabad (Pavel Daniluk) ist eine weitere Figur an Bord, die im nüchternen Stahlkoloss eine mysteriöse Erscheinung bleibt.

Metaphorische Szenerie und psychologische Hintergründigkeit spielen sich hier in die Hände. Das schliesst veritable Kinomomente nicht aus. Bizets atmosphärisch dichte und immer wieder spannungsgeladene Musik wirkt manchmal wie ein Filmsoundtrack. Der Dirigent Carlo Rizzi legt mit dem glänzend disponierten Orchester die Nerven der farbig orchestrierten Musik frei, und er lässt so an der Entdeckung einer überraschend reichen Partitur teilnehmen, die das Spektrum der «Carmen» zwischen dem zarten Lyrismus der Micaela, der rhythmischen Verve der Chöre und der melodischen Dramatik der Schlussszene vorwegnimmt.