Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (20.09.2010)
Alban Bergs Oper «Wozzeck» am Theater St. Gallen
Die Musik ist in einer Oper Dienerin und Herrin zugleich. Diese Doppelrolle tritt in wenigen Werken des Musiktheaters so klar zutage wie in Alban Bergs «Wozzeck». Die zwischen 1918 und 1921 entstandene Oper beruht auf dem unvollendeten Bühnenstück «Woyzeck» von Georg Büchner. Berg ist bei der Komposition sehr konstruktiv vorgegangen und hat sowohl die drei Akte als auch die sechzehn Szenen mit Formen der absoluten Musik ausgestaltet. So besteht der erste Akt aus fünf Charakterstücken, die Szene zwischen Wozzeck und Marie etwa aus Militärmarsch und Wiegenlied. – Die Aufführung von «Wozzeck» am Theater St. Gallen streicht die Bedeutung der instrumentalen Schicht kräftig heraus. Unter der Leitung seines Chefdirigenten David Stern musiziert das Sinfonieorchester St. Gallen beherzt und bringt die unterschiedlichen Charaktere der Szenen wirkungsvoll zum Klingen. Indes war an der Premiere die Lautstärke nicht immer richtig austariert, so dass insbesondere die weniger stimmkräftigen Nebenrollen manchmal zugedeckt wurden.
Sängerische Bestleistungen vollbringen die beiden Protagonisten. Dem Wozzeck von Julian Tovey steht ein ausdrucksstarker Bariton zur Verfügung, mit dem er seine Rolle als Füsiliersoldat und Versuchskaninchen seiner Vorgesetzten treffend darstellt. Weniger überzeugend wirkt Wozzeck im Umgang mit seiner unehelichen Frau Marie, mit der er ein Kind hat. Wenn er sie am Schluss aus Eifersucht tötet, fehlt es dem Darsteller an der letzten Radikalität, so dass die Tat nicht als zwingend erscheint. Die Rolle der Marie ist mit der Bündnerin Maria Riccarda Wesseling prominent besetzt. Mit ihrem temperamentvollen Sopran setzt sie, als einzige grosse Frauenrolle, die Glanzpunkte der Aufführung. Sie verkörpert Marie als eine lebenshungrige Frau, die sich mit dem unter Wahnvorstellungen leidenden Wozzeck nicht zufrieden gibt und auf ein erfüllteres Leben mit dem Tambourmajor hofft. Erin Caves mimt diese Rolle stimmlich und darstellerisch als aufgeblasener Macho.
Die Inszenierung von Alexander Nerlich und das Bühnenbild von Gisela Goerttler nehmen den konstruktiven Charakter von Bergs Musik auf. Auf der neutralen und fast leeren Bühne bilden mehrere fünfstöckige Etagenbetten die Hauptrequisiten. Vordergründig dienen sie als Truppenunterkunft der Soldaten, darüber hinaus auch als Wohnung Maries und ihres Knaben, als Leichenkabinett des Doktors oder als symbolische Gegenstände. Weniger einheitlich sind die von Amit Epstein entworfenen Kostüme. Während der Tambourmajor mit leuchtend roter Jacke als richtiger Militär daherkommt und auch Wozzeck und sein Compagnon Andres (Nik Kevin Koch) mit Stiefeln und Mantel in Tarnfarben halbwegs an Soldaten erinnern, sind der Hauptmann (Riccardo Botta) als homophiler Dandy und der Doktor (Tijl Faveyts) als Bösewicht im schwarzen Mantel ausgestattet. Ganz aus dem Rahmen fallen die als bayrische Jäger in Lederhosen verkleideten Saufbrüder in der Schenke, welche Maries Tanz mit dem Tambourmajor begaffen. Und weshalb sie die Dirne, mit der sie sich vergnügen, am Schluss elend verbluten lassen, bleibt das Geheimnis des Regisseurs.