Alfred Zimmerlin, Neue Zürcher Zeitung (20.09.2010)
Bizets «Les Pêcheurs de perles» in Zürich
Lebensgefährlich ist der Beruf der Perlentaucher in Ceylon, somit brauchen sie Beistand von oben: Eine zur Keuschheit verpflichtete Priesterin hat im Kontakt mit Brahma für ruhige Gewässer zu sorgen. Doch da taucht der Geliebte auf, und die Oper nimmt den erwarteten Lauf, würde man meinen. Nur wurden «Les Pêcheurs de perles» vom jungen Georges Bizet komponiert, der voller Theaterblut steckte und ein Gespür für die sozialen Strukturen einer Gesellschaft hatte. Vor allem nach einem ersten Versuch einer Rekonstruktion der ursprünglichen Absichten Bizets durch Arthur Hammond (1975) anhand des Klavierauszugs von 1864 weiss man, dass das Stück weit mehr ist als eine exotische Fabel. Vollends in der nun im Opernhaus Zürich gegebenen sorgfältigen Edition von Brad Cohen (2002), die auch ein unterdessen wieder aufgefundenes Particell mit einbezieht, sind aus der Musik unerhörte dramatische Möglichkeiten herauszuspüren.
Kritisches Potenzial
Mit wenigen Mitteln wird die Dreiecksbeziehung der Protagonisten Léïla, Nadir und Zurga vielschichtig gezeichnet. Es springt einem förmlich in die Ohren, dass das Geschehen auch Brisanz hat, und zwar nicht nur in den erstaunlichen und zahlreichen Chören, in denen Bizet ohrenfällig macht, wie Massen manipulierbar sind. In der Inszenierung des bewährten Teams von Jens-Daniel Herzog (Regie) und Mathis Neidhart (Bühnenbild) zusammen mit Sibylle Gädeke (Kostüme) springt einem das kritische Potenzial auch in die Augen. Die Ereignisse werden in den Bauch eines rostigen Schiffes verlegt, welches Neidhart im Querschnitt darstellt – mit beweglichen Decks.
Im Unterdeck agiert der Chor der Oper Zürich, den Jürg Hämmerli in beste Form gebracht hat: Die Arbeiterinnen und Arbeiter öffnen am Fliessband Muscheln und suchen die begehrten Perlen. Militantes Bewachungspersonal sorgt dafür, dass auch jede Perle in Zurgas Kapitänskajüte im Mitteldeck landet. Das Oberdeck nun gehört dem religiösen Überbau, dort arbeitet die Priesterin Léïla: Ihr Singen soll die Meere besänftigen. Abends zieht sie erschöpft die Berufskleidung aus und greift in Jogginghose und Bluse zur PET-Flasche und zur (Wasserdampf-)Zigarette.
Differenzierte Personenführung
Eine plakative Sicht, würde man meinen, aber wie Herzog intelligent die Ebenen wechselt, raffiniert Einzelpersonen und Chor führt und differenziert die Charaktere herausarbeitet, geht weit über das Plakative hinaus und öffnet die Ohren für die Feinheiten der Musik. Man ist betroffen und hat doch Distanz zum Geschehen – Regietheater in bester Ruth-Berghaus-Tradition. Die Schlusskurve im letzten Bild allerdings wirkt leicht unstimmig; die Elemente der Inszenierung sind nicht mehr in diesem atemberaubenden Gleichgewicht, das Herzog bis dahin halten konnte. Oder wäre hier ein hübsches Theaterfeuer geplant gewesen statt des lächerlichen, kurz auflodernden Flämmleins im Papierkorb? Die Utopie des Gangs von Léïla und Nadir in eine gleissend helle Zukunft, während die Machtstrukturen nur scheinbar zusammenbrechen, wirkt dadurch aufgesetzt.
Enormes war in dieser raumgreifenden Inszenierung schauspielerisch und sängerisch zu leisten, vorab überzeugte Javier Camarena mit seinem geschmeidigen, wandlungsfähigen lyrischen Tenor als Nadir. Malin Hartelius verstand es, Léïla auch dann, wenn sie Priesterin und Göttin sein muss, menschliche Züge zu geben, und gestaltete ihre emotionellen Schwankungen und ihre wachsende innere Festigkeit im zweiten und dritten Akt eindrücklich. Franco Pomponi zeigte als Zurga anfangs einige vokale Unschärfen, gewann aber vor allem im dritten Akt mehr und mehr an Überzeugungskraft. Sonor der Bass von Pavel Daniluk als Oberpriester Nourabad. Dirigent Carlo Rizzi setzte sich engagiert für das Werk ein, gab dem Orchester im Laufe des Abends Profil und überwand in der Folge einige Ungenauigkeiten und Balance-Probleme, die sich noch im ersten Akt gezeigt hatten.