Oben wird geliebt, unten geschuftet

Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (20.09.2010)

Les pêcheurs de perles, 18.09.2010, Zürich

Das Zürcher Opernhaus zeigt Georges Bizets selten gespieltes Stück «Les pêcheurs de perles», und fürs Publikum gibts einige Perlen.

Es gehört zu den Mysterien der Oper, dass eine hanebüchene Story trotzdem echte Gefühle vermitteln kann. Georges Bizet hat das in «Les pêcheurs de perles» (1863) geradezu exemplarisch vorgeführt. Es geht um zwei Männer in diesem Stück, die sich in dieselbe Frau verlieben, aber um der Freundschaft willen auf sie verzichten. Viel später treffen sich die drei bei den Perlenfischern wieder: Zurga als Chef, Nadir als zurückgekehrter Aussteiger, Léila als Priesterin.

Schon für dieses Wiedersehen hat der Zufall ganze Arbeit geleistet. Aber dafür, dass es für Nadir und Léila erst zur Katastrophe und dann zur glücklichen Wende kommt, braucht es noch viel mehr: ein Keuschheitsgelübde etwa. Oder die Tatsache, dass Léila einst als Kind Zurga das Leben gerettet hat, was nur dank einer Kette gerade noch rechtzeitig erkannt wird, worauf sich Zurga zur Revanche entschliesst.

Tenor ohne Macho-Gehabe

In einem Film würde man sich kaputtlachen über diesen Plot. In der Oper dagegen erlebt man in gut zwei Stunden Liebe, Angst, Hass, Eifersucht, Trotz, Reue und eine Musik, die all das wirkungsvoll zu übersetzen weiss. Das Orchester der Oper spielt unter der Leitung von Carlo Rizzi plakativ, wo es die Instrumentation erfordert, und innig, wo sie es zulässt. Und das Protagonistenquartett lässt einen bald einmal vergessen, dass die musikalische Psychologie denn doch noch ein wenig simpler ist als bei der zwölf Jahre später entstandenen «Carmen».

Allen voran ist da Javier Camarena zu rühmen, der als Nadir einmal mehr beweist, dass ein Tenor kein Macho zu sein braucht, um die Geliebte und das Publikum für sich zu gewinnen. Weich ist seine Stimme, ohne je weichlich zu sein; es ist die Stimme eines ungemein sympathischen Träumers, der genau weiss, wann er aufwachen muss. Und man versteht sehr gut, dass Léila diesen Nadir dem dominanten Zurga vorzieht. Allerdings hat auch Franco Pomponis Zurga entschieden Applaus verdient für seine Sprachkunst, seinen je nach Bedarf smarten oder schneidenden Bariton – und für die schönste Eifersuchtsszene seit langem.

Absurde Geschichte

Malin Hartelius’ Léila läuft als Opfer dieser Eifersucht ebenfalls zu Hochform auf. Ihr zuvor noch etwas verhaltener Sopran wird gross und schillernd hier und so intensiv, dass Zurga ebenso wenig dagegen ankommt wie Pavel Daniluks Oberpriester mit seinem unerschütterlich sonoren Bass. Musikalisch ist die Perlenfischerei in Bizets Partitur damit durchaus erfolgreich. Aber die Regie kommt trotzdem nicht darum herum, sich mit der absurden Geschichte herumzuschlagen. Da war es zweifellos eine gute Idee, Jens-Daniel Herzog zu engagieren, der sein Flair für schwierige Vorlagen schon oft bewiesen hat (man erinnert sich zum Beispiel gern und vergnügt an Joseph Haydns «L’infedeltà premiata»: wegen der geradezu genialen Sekten-Inszenierung, und auch wegen Javier Camarena, der dort mit ganz anderer Frisur eine ganz ähnliche Figur gab).

Georges Bizets «Les pêcheurs de perles» nun präsentiert Herzog nicht, wie im Libretto vorgesehen, an einem exotischen Strand, sondern im Innern eines Kutters. Rostige Wände, schmale Treppen und eine schmucke Kombüse für Zurga hat Mathis Neidhardt gebaut, und Herzog nutzt die drei Stockwerke geschickt für Verfolgungsjagden und Versteckspiele. Oder auch für parallele Handlungen: So sehen wir etwa Nadir und Zurga diskutieren und trinken, während Léila über ihnen die wiedergefundene Liebe besingt. Jean-Daniel Herzog präzisiert und beschleunigt damit eine Geschichte, die sonst während dieser Strophen-Arie bedrohlich lange stehen bleiben würde.

Fröhlicher Widerspruch

Unter Zurgas Kombüse gehen derweil die Perlenfischer ihrer monotonen Arbeit nach, scharf bewacht von Aufsehern, die ähnliche Assoziationen wecken wie die Inschrift «Le bonheur du travail» auf der schmutzigweissen Wand. Herzog zeigt die Oper damit auch als Drama der Unterdrückung. Das ist etwa in der Fliessbandchoreografie optisch überaus attraktiv (auch dank Sibylle Gädekes Kostümen), und es wäre inhaltlich sinnvoll – wenn die Perlenfischer-Chöre dieser Lesart nicht so fröhlich widersprechen würden.

Vom Text her könnte man die Tanzverse und das Tralala ja noch als aufgezwungene Heiterkeit umdeuten, aber musikalisch funktioniert das nicht. Zu überzeugend hat Bizet die kollektive Freude im elastischen Wechsel zwischen Frauen-, Männer- und gemischten Chören gestaltet. Und der von Jürg Hämmerli vorbereitete Chor vermittelt das ebenso unmittelbar wie den Hass und die sprachlich fulminante Hetzjagd auf die Liebenden im 3. Akt. Da finden dann die Musik und die Inszenierung wieder zusammen – in einem Finale, das wie so oft bei Herzog kein wirkliches Happy End ist. Und damit umso ergreifender.