Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (20.09.2010)
Mit «Les Pêcheurs de Perles» zeigt das Opernhaus Zürich die erste abendfüllende Oper von Georges Bizet. Die Premiere am Samstag liess musikalisch zwar viele Wünsche offen, überzeugte aber durch eine kluge und spannende Inszenierung.
Von der «Carmen» hört man noch nicht viel in dieser Partitur von 1863. Mehr von Halévy, Gounod und der Grande Opéra à la Meyerbeer. Aber das heisst keineswegs, dass Georges Bizets ambitionierter Opernerstling «Les Pêcheurs de Perles» (Die Perlenfischer) keine Qualitäten hätte. Erst im Zuge des Welterfolgs von «Carmen» zwar, den Bizet nicht mehr erlebte, wurden seine früheren Opern überhaupt ernst genommen. Und wenn heute - lange Zeit kursierten haarsträubende Versionen - endlich eine Ausgabe verfügbar ist, die Bi- zets Absichten wenigstens so weit wie möglich berücksichtigt (vieles von seinen Manuskripten ist verloren oder in alle Winde zerstreut), dann kann man daran gehen, die Qualitäten dieser Oper zu diskutieren, die hauptsächlich mit zwei Wunschkonzert-Nummern überhaupt im Gedächtnis des Publikums geblieben ist.
Raffinesse ausser Acht gelassen
Vor allem die Romanze des Tenors ist tatsächlich ein Höhepunkt der Oper, ein träumerisch verklärtes Zurückblicken, das Javier Camarena in der Inszenierung am Opernhaus Zürich auch ganz zart, leise und sensibel gestaltete. Hier, für einmal, war auch Carlo Rizzi am Dirigentenpult ein kongenialer Begleiter. Sonst kämpfte der Italiener am Samstag nicht nur mit der schwierigen Koordination und Präzision, was bis zu einem gewissen Grad an einer Premiere noch goutierbar wäre, sondern auch mit dem spezifisch französischen Touch des Werks, zu dem er den Zugang nicht auf befriedigende Weise fand. Meistens war das Orchester zu laut, was auch am zu leicht besetzten Sängerensemble lag. Vor allem aber suchte Rizzi schon gar nicht nach der Raffinesse von Bizets Orchestersprache, sondern liess das Stück recht laut und plakativ durchrauschen. Bizet hat recht üppig instrumentiert, aber solch eine pauschale Auslegung hat sein Werk nicht verdient. Es ist nicht die ganz grosse Perle. So gibt es einige nicht sehr inspirierte Passagen, aber auch zahlreiche melodisch überaus bezwingende, harmonisch dichte und einfallsreiche und in den Orchesterfarben originelle und bezaubernde Momente. Nicht verwunderlich, dass der raffinierteste Instrumentierer seiner Zeit, Héctor Berlioz, als einer der ganz wenigen die Qualitäten der «Perlenfischer» ausgiebig würdigte.
Stimmlich ordentlich zugelegt
Camarena konnte noch am besten mithalten mit Rizzis Gangart: Erstaunlich, was der mexikanische Tenor, der erst vor drei Jahren aus dem Opernstudio herauswuchs, inzwischen auch an Timbre, Kraft und fokussierter vokaler Präsenz zugelegt hat. Bei Malin Hartelius dagegen fehlten genau diese stimmlichen Tugenden fast total - nur mit dem schönen Timbre allein lässt sich ihre Rolle nicht wirklich gestalten. Und schon gar nicht diejenige des Baritons, in welcher der Amerikaner Franco Pomponi zwar darstellerisch eine ausgezeichnete, stimmlich aber eine sehr eindimensionale und unterbelichtete Figur machte, und dies in der bei weitem vielschichtigsten, zerrissensten und spannendsten Figur der Oper.
Über die Oper hinausgewiesen
Diese Facetten immerhin machte die Inszenierung von Jens-Daniel Herzog auf bezwingende Weise deutlich. Erneut bestach seine Arbeit in erster Linie durch eine sehr schlüssige, detaillierte und glaubhafte Personenführung, die mit zahlreichen guten Ideen immer wieder auch Nebenhandlungen inszenierte, welche das Kunststück fertig brachten, den Protagonisten beim Singen Konzentration und Raum zu lassen, ohne ihre Arien und Duette ernsthaft zu stören. Dass diese Perlenfischer auf einer schwimmenden Fischfabrik von heute spielen statt an einem Traumstrand in Sri Lanka, dass die archaisch geprägte Gemeinschaft ersetzt wird durch orwellsche Bilder von Unterdrückung und Klassenkampf, muss vielleicht nicht unbedingt sein. Aber es kann, wenn ein Könner wie Herzog am Werk ist. Wenn die Brutalität und Verführbarkeit der Masse so drastisch gezeigt wird, wenn soziale Realitäten so überzeugend glaubhaft in eine heutige Gesellschaft transferiert werden, kann man sich auch bei einem unbekannten Werk an einer aktuellen, intelligenten, gedankenanregenden Inszenierung freuen, die über die Oper selbst hinausweist.