Tanz auf der Rasierklinge

Bettina Kugler, St. Galler Tagblatt (20.09.2010)

Wozzeck, 18.09.2010, St. Gallen

Ein Weib wie ein Kraftwerk, ein Mann, dessen Versehrtheiten nur noch Unheil bringen können: Figuren aus Fleisch und Blut und messerscharfe Musik machen den Auftakt zur neuen Spielzeit mit Alban Bergs Oper Wozzek zum einschneidenden wie eindringlichen Erlebnis.

Gehetzt. Vergeistert und verstört. «Wie ein offenes Rasiermesser», so läuft er durch die Welt. Philosophiert zu viel, hört apokalyptische Posaunen tönen und das Gras wachsen, «schnappt noch über mit den Gedanken». Das ist der arme Soldat Wozzeck, wie ihn die anderen sehen. Die auf der Bühne jedenfalls: sein Hauptmann, seine Geliebte Marie, der Doktor, der an Wozzecks Leib skrupellos Wissenschaft treibt; auch Andres, der mit dem Kameraden durch die Hölle wahnhafter Visionen geht. Wozzeck, ein Getriebener, «Herr Sargnagel», der in einem letzten Aufbäumen etwas wie Wirkmächtigkeit, Handlungspotenz spüren will – und die Frau tötet, die er liebt.

Das einzige, was er hat und doch längst verloren hat in der Welt. So geistert der Mensch im Elend durch Büchners Dramenfragment; heute würden ihm Gerichtsgutachter wohl eine «posttraumatische Belastungsstörung» und eingeschränkte Schuldfähigkeit attestieren.

Röntgenblick, Seziermesser

Julian Tovey stemmt sich mit enormer körperlicher Präsenz gegen diese Zuschreibungen. Wie ein Baum steht er auf der Bühne, massig, eins mit sich noch in Momenten höchster Erregung, nicht als dumpfes Opfer der Verhältnisse, sondern wie das leibhafte Gegenstück zum Protestplakat, das ihm Riccardo Botta als lächerlich-durchgedrehter Hauptmann in der zweiten Szene des ersten Akts fuchtelnd vor Augen hält: «Ein guter Mensch tut alles langsam.» Julian Toveys Wozzeck ist dieser gute Mensch, doch das sehen offenbar nur diejenigen im Saal. Sein Bariton lässt sich nicht aus dem Lot bringen, er spielt so intensiv stoisch, dass Alban Bergs Musik ihn durchleuchten kann wie ein Röntgenapparat.

Und so geht David Stern am Pult des Sinfonieorchesters St. Gallen damit um. Leidenspathos als Kunst um der Kunst willen kommt an diesem Abend kaum auf; Berg packt mit den ersten verhuschten Wozzeck-Tönen und lässt uns nicht mehr los bis zum gläsernen «Hopp, hopp! Hopp, hopp!» des Kindes (Serafin Schroff) ganz am Schluss.

Partitur als Seziermesser

Mag die Nähe zu Mahler, auch zu Puccini stellenweise verblüffend sein: Die Partitur ist ein Seziermesser. Schneidend fährt Büchners Sprache mit ihr ins Fleisch, in den Gesangspartien ebenso scharf und eindringlich wie im dichten Orchestergewebe, in Passagen, die transparent sind wie Kammermusik. Wenn Büchners Text in Rätseln spricht, tastet und tappt die Musik im dunkeln; auch das hat Methode. Die Strenge der Form drängt sich nicht in den Vordergrund.

Eindeutig wird die Diagnose in Alexander Nerlichs Inszenierung aber allenfalls im Umfeld: Die Welt ist aus den Fugen. Sie ist grau und leer und derart durchgedreht, dass alle Bindungen abreissen. Ihr Mobiliar beschränkt sich auf karge Stahlgerüste, Mehrfachpritschen in unterschiedlichster Anordnung: ein «Menschenregal» (Bühne: Gisela Goerttler) für den Ausverkauf aller Hoffnungen auf ein besseres Leben. Es lässt sich einsetzen als Maries schäbige Stube, zum Stapeln von Soldaten in der Kaserne, als gespenstisch vom Mond beschienener Steg; manchmal stehen die Kästen auch zweckfrei herum. Oder sie schaukeln im Schnürboden, zu Maries ängstlich verzweifeltem letzten Gebet. Eiskalt fasst sie uns da an mit ihren heissen Tränen.

Lust, Leid, Trostlosigkeit

Überhaupt diese Marie: Was für ein Weib! Der Überlebenswille dringt Maria Riccarda Wesseling aus allen Poren, strömt in ihrem farbenreichen Mezzo kraftvoll zwischen Lust und Leid, muss sich zwangsläufig zu Tode reiben an Wozzeck und dem Rest der Welt. Sie ist eine Marie aus Fleisch und Blut, stemmt ihre fordernde Partie mit der grössten Selbstverständlichkeit. Mag die Welt weiterlärmen: Wenn Maria Riccarda Wesseling unter Wozzecks Messer zusammensinkt, «ist's still, als wäre die Welt tot». Wie ihr Geliebter es im Wahn längst schon durchlebt hat.

In den Nebenrollen ragen Till Faveyts als Doktor und Riccardo Botta als gehetzter Hauptmann heraus: Sie lassen keine Zweifel daran aufkommen, woran die Welt krankt und wer in ihr am meisten verrückt ist, reizen die musikalischen wie komödiantischen Mittel in der sonst so erbarmungslos traurigen Oper aus. Sie provozieren ein Lachen, das der Inszenierung gut tut, aber nichts von ihrer Schärfe nimmt.

Zuckende Geistesblitze

Wozzecks Innenwelt ist in Alban Bergs Musik ein offenes Buch – voller seltsamer Sätze, mal dunkel dräuend, mal rebellisch aufbegehrend, zuweilen zucken blendende Geistesblitze dazwischen. Die Inszenierung unterstützt das mit Szenen, die wie Schattenrisse stehenbleiben. Alexander Nerlich mag mit seinen dreissig Jahren ein Anfänger in Sachen Opernregie sein; so viel hat er verstanden: Was in der Musik aufgehoben und bei spielstarken Sängern zur zweiten Natur wird, braucht keine Extraportion Aktionismus.

Gejagte Kreatur Mensch

So grell wie nötig wirken die Wirtshausszenen, branntweingetränkte Jägerliedchen für die gejagte Kreatur Mensch, verzweifelte Maskeraden in Lederhosen und Leopardenstrümpfen. Hier regiert der Tambourmajor (Erin Caves), der Marie den Kopf verdreht und damit endgültig ins Unheil stürzt; Kostümbildner Amit Epstein putzt ihn zum lächerlichen Karnevalsprinzen auf.

Mutterseelenallein

Bleibt auf der Seite der Wahrheit nur das Kind als stummer Zaungast in einer insgesamt kaputten Welt. Anders als im Libretto bleibt es am Ende einsam auf der leeren Bühne zurück: Im grossen Kosmos mutterseelenallein.

Das Premierenpublikum, erlesener als sonst zu Premieren des Musiktheaters, tröstete sich mit langanhaltendem Applaus, nicht nur für die überragenden Leistungen der Sänger.