Liebesleid in Zeiten der Diktatur

Oliver Meier, Berner Zeitung (05.10.2010)

Tosca, 03.10.2010, Bern

Zwischen Hollywood, Franco-Regime und Guantánamo: Das Stadttheater zeigt Puccinis «Tosca» als zwiespältiges Politdrama der Moderne. Regisseur Anthony Pilavachi spielt mit dem Feuer – und erntet ungeteilten Applaus.

Puccinis «Tosca» ist ein Fest für Sänger – und eine Knacknuss für ambitionierte Regisseure. Wie soll man heute dieses Libretto inszenieren, das die napoleonischen Wirren im Rom des beginnenden 19. Jahrhunderts heraufbeschwört und jede Geste, jedes szenische Detail vorschreibt? Nur wenige Regisseure haben sich von jener Aufführungstradition gelöst, die der übermächtige Franco Zeffirelli prägte: die «Tosca» als pathetisches Ausstattungstheater in historischem Ambiente – so war das Werk auch am Stadttheater letztmals zu sehen, 1999 unter der Regie des damaligen Intendanten Eike Gramss, an den sich Berns Traditionalisten wehmütig erinnern.

Der irische Regisseur Anthony Pilavachi hat mit opulentem Historientheater nichts am Hut. Das bewies er bereits 2008 mit seiner originellen, viel gelobten Berner Inszenierung von Benjamin Brittens «A Midsummer Night’s Dream». Und er zeigt es, geradezu demonstrativ, in seiner «Tosca», die letztes Jahr am Grand-Théâtre de Bordeaux herauskam und nun (mit veränderter Besetzung) im Stadttheater über die Bühne geht.

Fülle von Assoziationen

Nicht die bittere Liebesgeschichte steht da im Zentrum, sondern der Zynismus des korrumpierten Machtapparats, dem die Protagonisten zum Opfer fallen. Schnörkellos erzählt Pilavachi die Story um den skrupellosen Polizeichef Scarpia, die Sängerin Tosca und deren Liebhaber Cavaradossi als Sex-and-Crime-Geschichte im Mikrokosmos einer Diktatur, die sich schamlos der Religion bedient, um ihre Pläne zu verwirklichen. Dabei weckt die Produktion eine Fülle von Assoziationen – von der goldenen Ära Hollywoods und der italienischen Cinecittà über die Diktaturen der Dreissigerjahre und das Franco-Regime bis hin zum Gefangenenlager von Guantánamo: Im orangefarbenen Overall, mit Hand- und Fussfesseln kniet Cavaradossi im Schlussakt auf der Bühne, bevor das Erschiessungskommando aufmarschiert. Ein provokatives Bild, das sich allerdings – wie manch anderes – so zwanglos ins Geschehen einfügt, dass ein Grossteil des Berner Publikums offenbar damit leben kann.

Pilavachi bürstet das Stück nicht gegen den Strich. Er bleibt dem Libretto über weite Strecken treu. Was er weglässt, vermisst man nicht. Und wenn er seine Fantasie ausspielt, dann gelingen ihm Szenen von beklemmender Intensität – so im berühmt-berüchtigten «Te Deum» im ersten Akt, das sich als infernalischer Höllensturz entfaltet, an dessen Ende die Kirche in Flammen aufgeht. Begleitet vom Chor, der sich in den Zuschauerrängen breitgemacht hat, steht Scarpia (Carlos Almaguer) alleine auf der Bühne – als gefallener Engel, der Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um sein lüsternes Ziel zu erreichen: die Eroberung Toscas.

Wie ein Leitmotiv geistert das «Jüngste Gericht» durch die Produktion – in Form eines gewaltigen Freskos von Luca Signorelli (1441–1523), das bereits in der Amsterdamer Inszenierung von Nikolaus Lehnhoff (1998/2007) zu sehen war. Im zweiten Akt wird es zum Dekor einer klaustrophobisch-sterilen Macht- und Folterzentrale, die mit einem geschmacklos überdimensionierten Sofa und einer ferngesteuerten Schiebetür im Stil früher James-Bond-Filme aufwartet (Bühne: Markus Meyer).

Statische Personenführung

So konsequent und ideenreich Pilavachi die totalitäre Atmosphäre ausgestaltet, so uninspiriert agiert er bei der Personenführung – vor allem im ersten Akt, der kaum in Gang kommen will: Zu statisch und hölzern agieren die Protagonisten, zu zahm präsentiert sich auch das Berner Symphonieorchester unter der Leitung von Srboljub Dimic. Erst im zweiten Akt gewinnt das Orchester an Prägnanz und Profil, und das gilt auch für die Darsteller. Für die Entwicklung von psychologisch stimmigen Rollenporträts ist es da allerdings schon zu spät.

Gesangliche Glanzleistung

Zwar leidet Tosca, gespielt von der sängerisch starken Gabriela Georgieva, nach Kräften mit ihrem gefolterten Cavaradossi (mit mächtigem Tenor: Luis Chapa), als Liebhaberin überzeugt sie allerdings ebenso wenig wie als (ambivalente) Diva, die im ersten Akt von einer Medienmeute verfolgt wird und sich in der Kirche Sant’Andrea della Valle unerklärlicherweise dem lechzenden Scarpia an die Brust wirft – einem Scapia, dem das diabolisch Düstere im Übrigen weitgehend abgeht.

Auch die Zeichnung der Nebenfiguren lässt Wünsche offen: Einzig Spoletta (Andries Cloete) setzt als Hilfsscherge mit Goebbels-Profil Akzente und erhält in Pilavachis Inszenierung überraschendes Gewicht: Am Ende des blutrünstigen Dramas, als Cavaradossi vor geladenen Gästen und einem gierigen Paparazzo exekutiert worden ist und sich Tosca in die Tiefe gestürzt hat, schwingt sich Spoletta zum Nachfolger des erdolchten Despoten auf. Angelotti dagegen, der entflohene Regimegegner (Milcho Borovinov), gewinnt kaum Gestalt, und der Mesner (Carlos Esquivel) ist nicht viel mehr als die Karikatur eines korrumpierten Kirchendieners, der auffallend gerne Chorknaben streichelt. So bleibt denn diese ambitionierte Produktion – trotz gesanglicher Glanzleistungen – eine zwiespältige Angelegenheit.