Marianne Mühlemann, Der Bund (05.10.2010)
Musikalisch voller Höhepunkte, szenisch konventionell: Das Ensemble des Berner Stadttheaters und das Berner Symphonieorchester brillieren in Anthony Pilavachis Inszenierung von Giacomo Puccinis «Tosca».
Die Idylle ist trügerisch. Über Rom flackert kein einziger Stern am Himmel, als Mario Cavaradossi (Luis Chapa) mit mächtigem Tenor und Ketten an den Füssen seine grosse Arie «E lucevan le stelle» (Es leuchteten die Sterne) in die Morgendämmerung schmettert. Ein Akt der Verzweiflung angesichts des nahenden Todes.
Denn: Scarpias Erschiessungskommando hat die Gewehre bereits geladen – doch nicht mit Platzpatronen, wie Floria Tosca, Cavaradossis Geliebte, meint. Das hat ihr der Polizeichef versprochen: Freiheit für sie und den zum Tod verurteilten Cavaradossi unter der Bedingung, dass sie sich ihm hingibt. Tosca geht auf den Deal ein, widerwillig, und sticht zu, als ihr Scarpia die Bluse vom Leib reisst. Was sie nicht weiss: In diesem Moment hat er seinen teuflischen Plan schon aufgegleist: Der gefährliche Macho will Floria Tosca ganz, aber sein Versprechen halten will er nicht. Er stirbt, und Cavaradossi wird sterben. Die Rache wird zum Triumph eines Toten.
Facettenreicher Thriller
Die düstere Geschichte mit historischem Hintergrund spielt im Juni 1800 in Rom, drei Tage nach der Schlacht bei Marengo in der Poebene. Rom steht unter neapolitanischer Polizeiherrschaft, die republikanischen Bestrebungen werden brutal unterdrückt. So richtet sich die Hoffnung der Republik-Sympathisanten, zu denen auch Tosca und Cavaradossi zählen, auf Napoleons militärische Aktionen im Norden. Giuseppe Giacosa und Luigi Illica haben die Story nach einem Libretto Victorien Sardous verfasst. Holzschnittartig lassen die Autoren ideologische und politische Gegensätze aufeinanderprallen. Und versammeln im Libretto alles, was Spannung und Emotion verspricht: Crime und Sex, Sadismus, Lügen, Leidenschaft, Betrug, Frömmelei und Folterkammer, ein bisschen Patriotismus, böse Paparazzi, ein paar Spritzer Blut . . .
Anthony Pilavachis leicht modernisierte Fassung ist viel weniger innovativ, als man mit einem Seitenblick auf Brittens «A Midsummer Night’s Dream» erwarten durfte, jene Oper, die er vor einem Jahr fulminant auf die Bühne des Stadttheaters brachte. Das mag man etwas bedauern. Auch Kostüme (Pierre Albert) und Bühne (Markus Meyer) sind recht konventionell. Dennoch vermag die Produktion am Sonntagabend zu überzeugen – und das hat vor allem einen Grund: die Musik.
Die eifersüchtige Primadonna
Dynamisch beweglich loten Srboljub Dinic und das Berner Symphonieorchester die Kontraste der Partitur aus und schaffen den Vokalsolisten jenen Gestaltungsfreiraum, den sie für die Darstellung ihrer heftigen Emotionen brauchen. Die Bulgarin Gabriela Georgieva, eine Rubensfigur unter Männern, kostet ihre Rolle aus. Mit weissem Pelz und schwarzer Sonnenbrille markiert sie die eitle, eifersüchtige Primadonna, die ihre seelische Not mit pfeilgenauen Spitzentönen zu verschiessen weiss.
Auch wie sie sich vom Opfer in die Täterin verwandelt (intensiv die Arie «Vissi d’arte»), nimmt man ihr ab, wenn sie in der klaustrophoben Enge des mit fallenden Leibern und Höllenfiguren bemalten Palazzo Farnese auf einem blutroten Sofa von Scarpia bedrängt wird, diesem mal teuflisch charmanten, mal teuflisch lüsternen Macho mit sonorem Bariton, der bald einmal die Sympathien des Publikums auf seiner Seite weiss.
Einstand eines Charismatikers
Der Mexikaner Carlos Almaguer, der den Scarpia spielt, ist zum ersten Mal in Bern zu hören. Er zeigt eine charismatische Bühnenpräsenz. Sein dunkler Bariton hat Glanz und Sinnlichkeit, seine Darstellung Format: Nahtlos verwandelt er sich vom unberechenbaren Bösewicht in den heuchlerischen Erpresser oder Kavalier. Und erntet für seine Arien «Tosca e un buon falco» oder «Già mi dicon venal» euphorischen Szenenapplaus.
Stimmliche Kraft zeigt auch Luis Chapa als Mario Cavaradossi: Sein freudiges «Vittoria! Vittoria!» über den Sieg Napoleons, mit dem er den Henker Scarpia mit Verachtung peitscht, geht durch Mark und Bein. Doch für einen feinsinnigen Künstler und leidenschaftlichen Freiheitskämpfer wirkt seine Darstellung am Premierenabend über weite Strecken zu unbeweglich.
Singende Engel im Raum
In schroffen Akkordblöcken treibt das Berner Sinfonieorchester die Handlung voran, zum Glück auch da, wo die Personenführung zu statisch bleibt. Dinic lässt die Orchestermassen explodieren oder die Zeit stille stehen – in zarten, impressionistischen Klanggeweben, wenn zum fernen Läuten der Kirchenglocken ein Hirtenbub (Fabian Meinen) seinen friedlichen Morgengesang anstimmt.
Ein brillanter Einfall war es, den Chor des Stadttheaters Bern und den Kinderchor der Musikschule Köniz (Leitung Anett Rest) auf Galerie und Logen aufzuteilen. Die stereofone Klangwirkung der geflügelten Engel mit federndem Heiligenschein (manchmal wäre weniger mehr) ist akustisch überwältigend. Auffallend der kurzsichtige Mesner (Carlos Esquivel), der in die sich zusehends verdüsternde Szenerie etwas Heiterkeit bringt. Doch auch er ist ein Dämon der käuflichen Sorte, mischt in skrupellosen Geschäften mit wie der aalglatte Gendarm Spoletta (Andries Cloete), der nach der Exekution zum Chef befördert wird.
Der Himmel über der Engelsburg ist vergittert. Wie zu Beginn die Kapelle, in der sich der politische Gefangene Cesare Angelotti (Milcho Almaguer) versteckt hat. Hinter der Mauer verbirgt sich ein Abgrund. Kein Stern flackert am Himmel. Dafür eine Reihe grell leuchtender Lampen. Die blendende Horizontale scheidet Tag und Nacht. Und nach Toscas Sprung in die Tiefe – die Lebenden von den Toten.