Peter Surber, St. Galler Tagblatt (25.10.2010)
Das Theater St. Gallen inszeniert Bellinis La sonnambula ganz im Dienst des Gesangs und mit einer grandiosen Amina.
Der Sessel, die Kommode, das Bett, alles riesengross, so dass der Mensch als Zwerg erscheint und sich sogar im Schubladenfach verstecken kann.
So ist die Hauptbühne möbliert: XXL. Dafür die Häuschen im zweiten Akt: Swissminiatur (das Libretto spricht von einem Schweizer Bergdorf), so dass der Mensch zum Riesen wird. Ganz rechts am Bühnenrand tauchen Bett, Kommode, Sessel noch einmal auf, diesmal als Puppenstube samt Puppen von Amina, Elvino, Lisa und Rodolfo.
Zu klein oder zu gross ist alles. Nur einmal haben Bett und Kommode Normalmass: in jener Schlüsselszene, als Amina schlafwandelt und sich statt zu ihrem Bräutigam beim Grafen Rodolfo ins Bett legt – Auslöser aller Liebes- und Eifersuchtsverwicklungen, die am Ende doch zwei glückliche Paare hervorbringt.
Die Grösse der Musik
Zu klein, zu gross: Das ist ein zwar nicht neuer, aber anspielungsreicher Bühnenkniff von Regisseur Giorgio Barberio Corsetti und seinem Team (Cristian Taraborrelli, Bühne, und Angela Buscemi, Kostüme). Vorn am Rand, im Puppenformat, das «Kleine», einfach Gestrickte der Story: Amina mit Elvino, Elvino gegen Amina, Lisa mit Elvino, Rodolfo mit Amina, eine augenzwinkernde Glossierung des Bühnengeschehens. Dieses aber ist zugleich bigger than life: gewaltig durch Bellinis Musik, die die Höhen und Tiefen einer Liebe, die in Anfechtung gerät und am Ende triumphiert, auslotet, ausweitet, ins beinah Übermenschliche emotionalisiert.
In «La sonnambula», 1831 uraufgeführt, ist die Geschichte ein Nichts und die Musik ein und alles. Regisseur Corsetti tut daher das Richtige: Er lässt die Sängerinnen und Sänger in Ruhe singen. Ohne Hast baut er einfache Szenerien auf, als wär's ein Bilderrahmen für die Arien. Das ist altmodisch, manchmal etwas statisch, Oper fürs Ohr. Doch hier umso willkommener, als die Hauptrollen der Amina und des Elvino gewaltige Ansprüche stellen.
Ein Traumsopran
Jane Archibald singt die stimmlich und darstellerisch hochkomplexe Rolle der Amina mit Leichtigkeit, unverkrampften Spitzentönen und berückenden Pianissimi. Librettist Felice Romani wäre begeistert gewesen, wie die kanadische Sopranistin seine Ansprüche erfüllt: «voll von Zierde, spontan, aber peinlich kontrolliert, technisch perfekt, aber ohne ein Zeichen von Einstudiertheit» zu singen.
Ihre Stimme, klar zeichnend und doch etwas mädchenhaft, passt ideal zur träumerischen Figur der Amina. Sie füllt noch im stockenden Beinahverstummen den Saal, ihre grosse Traum-Arie «Ah, non credea mirarti…» lässt den Atem anhalten. Und ihr finaler Koloraturenjubel krönt eine mirakulöse Leistung.
Das bringt sogar den verstockten Elvino auf den Weg der Liebe zurück. Lawrence Brownlee gibt ihn mit gewinnendem Wesen und schlagkräftigem Tenor, seine Stimme hat Charme und Schmelz, aber auch Schärfe, wenn er Amina wegstösst. Stimmig besetzt sind die weiteren Rollen, der Rodolfo mit Roberto Tagliavinis mächtigem Bass, Alison Trainer als intrigierende Lisa, Katja Starkes warmer Sopran für die mütterliche Teresa, Wade Kernot als spielfreudiger Alessio und Nik Kevin Koch als Notar.
Chor mit Lust und Präsenz
Gastdirigent Thomas Rösner und das Sinfonieorchester geben den Solisten ebenfalls viel Raum. Rösner kostet die kammermusikalische Partitur aus, nimmt die Tempi manchmal fast zu gemächlich, verzichtet auf alles Grelle und schafft jenen nächtlichen Hallraum, in dem man übergenau nach innen wie nach aussen hört. Und in dem Aminas verinnerlichter Gesang trägt.
«La sonnambula» ist aber nicht zuletzt eine grosse Choroper. Und hier bricht Bellini jene Terzen- und Sextenseligkeit, die er, ob Freud und Leid, sonst in verschwenderischem Wohlklang strömen lässt. Dem Chorvolk schreibt der Komponist Charakterstücke voll musikantischem Witz auf den Leib, die die Regie mit Augenzwinkern in Szene setzt – man fühlt sich an die liebevoll-derben Genrebilder erinnert, mit denen Tomi Ungerer einst Grimms Märchen illustriert hat.
Die Frauen unter weissen Häubchen, die Männer mit allerhand Hüten, sammeln sich die Dorfbewohner in den übergrossen Kulissen, jubeln dem Brautpaar zu, huldigen dem Grafen, zittern vor dem nächtlichen Gespenst, verehren und verstossen Amina. Ein wankelmütiges Zwergenvölklein, mit Lust gespielt und mit Präsenz gesungen von den St. Galler Theaterchören: So unterläuft die gewitzte Chor-Choreographie den hohen Ernst der Liebesaffäre.
Menschlich anrührendes Mass
Denn das nächtlich romantische Thema, Liebesduette und Eifersuchtskoloraturen, könnte leicht zuckersüss werden oder breitgepinselt à la Hollywood. Zwar schweben Amina und Lisa auch ein paar Mal projiziert auf Grossleinwand über die Hinterbühne. Aber das überwältigt nicht, sondern schafft den intelligenten Kontrapunkt zum Miniaturformat auf der Vorderbühne. Der Mensch als Puppe und Halbgott: Zwischen zu gross und zu klein findet diese St. Galler Erstinszenierung der Bellini-Oper traumwandlerisch das richtige, menschlich anrührende Mass.