Zwischen Traum- und Puppenspiel

Herbert Büttiker, Der Landbote (26.10.2010)

La Sonnambula, 23.10.2010, St. Gallen

Mit Vincenzo Bellinis «Las Sonnambula» präsentiert das Theater St. Gallen einen Gipfel der italienischen Romantik: Die Aria finale will den Jubel über alles Vorstellbare hinaus, die Sopranistin Jane Archibald bezaubert im Aufschwung.

Das 1831 uraufgeführte Melodramma in zwei Akten, das als «Die Nachtwandlerin» sogleich auch auf deutschsprachigen Bühnen gespielt wurde, ist Vincenzo Bellinis (1801–1835) zweites Hauptwerk und neben der tragisch gewichtigen «Norma» das lyrisch leichte, aber nicht weniger tiefgründige Schwesterstück, ein Traumspiel in doppeltem Sinn.

Der Somnambulismus erscheint in dieser Oper, ähnlich wie der Wahnsinn in den Werken dieser Zeit auch, als Zustand des vollkommenen Rückzugs ins Innerste von Gefühlen, Gedanken und Vorstellungen der Person, die ihre Welt, wie im Traum, nur noch imaginiert. Zugleich aber ist die Geschichte von «La Sonnambula» auch in einem Ambiente angesiedelt, das für den Komponisten und Librettisten Felice Romani weniger ein realistischer Ort als eine «Traumwelt» war. Das «Dorf in der Schweiz» bedeutete für die Opernproduzenten – Vertreter einer europäisch urbanen Kultur zwischen Mailand, London, Wien und Paris – die Imagination einer naiven Welt und damit verbunden die Sehnsucht nach ungebrochenen, klaren Gefühlen, nach Liebe – wofür Bellini mit seiner «unendlichen» Melodie, aber nicht weniger auch mit sensiblen musikalischen Miniaturen und harmonischen Finessen ein phänomenales Sensorium besass.

Belcanto – nicht einfach schön

Das nennt sich so leicht «Belcanto», bedeutet aber Ausdrucksintensität in gesanglichen Höchstleistungen, wobei die luzide Musik jede Unebenheit stimmlicher Fokussierung leicht blossstellt und sich die Kunst der Phrasierung an einer natürlichen Deklamation messen lassen muss. Alles Gelingen ist da nicht hoch genug zu schätzen, und so wurde das Ensemble an der Premiere am Samstag zu Recht gefeiert: Roberto Tagliavini, der mit sonorem Bass den ironischen wie nostalgischen Conte Rodolfo gab, Alison Trainer, deren vifer Sopran für Lisa wie geschaffen war, dann zumal Lawrence Brownlee, der mit seinem geschmeidigen Tenor auch die astralen Höhen der Elvino-Partie meisterte, aber auch mit Eifersuchtsdramatik imponierte, schliesslich die Kanadierin Jane Archibald, die den weiten Stimmumfang für Elvira bruchlos, mit klaren Spitzen, aber auch samtenen Tiefen bewältigte und nach etwas uneinheitlicher Intonation zu Beginn sich in den Schlafwandelszenen als suggestive Sänger-Darstellerin erwies und in der Finalszene über sich hinauswuchs – begeisternd mit der Innigkeit im Cantabile wie mit den jubelnden Koloraturen im Allegro.

Das Orchester erfüllte unter der Leitung von Thomas Rösner seine Begleitaufgaben mit grosser Subtilität, es gab blühende Soli zu hören (Trompetenduett!). Nicht unbedingt schnellere Tempi, aber mehr Elan in den lyrischen Tableaus (Quintett zum Beispiel) hätte den Zug in die Weite verstärken können, den die Musik in dieser Produktion auch gegen eine Inszenierung ein wenig verteidigen muss, die mit Belcanto aus der Puppenstube aufwartet.

Zu gross und zu klein

Traumbühne und Puppenstube: Giorgio Barberio Corsetti (Inszenierung), Cristian Taraborrelli (Bühne) und Angela Buscenti (Kostüme) bieten beides zugleich: Die biedermeierlichen Möbel erscheinen entweder ins Riesenhafte vergrössert oder zu klein, und auf der seitlichen Rampe zeigt sich das Operngeschehen gar in der Grösse der Puppenstube noch einmal. Das Dorf ist hier eine Puppenwelt, und wenn die Menschen in ihren Biedermeierkostümen recht drollig wirken, so harmoniert das in den im Übrigen prächtig gesungenen Chorszenen durchaus auch mit der Musik – wobei es so platt (Blumen schwenken) auch nicht zu und her gehen müsste. Überraschend sind die Auftritte der Protagonisten, für die das Riesenmobiliar begehbare Hügellandschaft und Architektur ist.

In den besten Momenten, wenn Amina schlafwandelnd die rieisge Kommode heruntersteigt, ist die Wirkung des surrealen Bildes auch wirklich suggestiv. Nur macht es sich die Regie auch zu einfach mit dem Leerlauf kreisender Möbel. Vor allem aber liebt es Corsetti vielleicht zu sehr, das befremdliche Geschehen, das da erzählt wird, mit Komik zu durchkreuzen, und dazu bietet die skurrile Ausstattung natürlich Hand. Das mag alles in allem fein genug sein, aber die Frage, ob hier Bellini nicht mit Rossini verwechselt wird, stellt sich dennoch – im Finale zumal, wenn sich Amina im Himmelsflug des Gesangs gar schnell im erdnahen Glück zurechtfindet. Als ob da nichts gewesen wäre.

Die sieben Himmel

Was gewesen ist? Die Nachtwandlerin verirrt sich ins Zimmer des Grafen und wird fatalerweise von ihrem Bräutigam und den Dorfbewohnern schlafend in dessen Bett entdeckt. Aller Schein spricht gegen sie, und dagegen kommt, wen wunderts, die reinste Musik nicht an. Aufgeklärt über das Phänomen des Schlafwandelns, ändert sich das in der Finalszene. Im somnambulen Auftritt leuchtet die innere Stimme in aller Reinheit. Mehr als die sprichwörtliche schlafwandlerische Sicherheit, mit der Amina über den Steg geht, berührt die innere Festigkeit ihres Gefühls. Dass das Innere auch aussen Bestand hat, erfährt sie, erfahren wir mit ihrer Erweckung. Von der Musik, die in diesem Moment das Seelische zur virtuosen Brillanz steigert, hoffte Bellini, dass sie die Sängerin «ai sette cieli», in alle sieben Himmel, heben sollte – wie sich auch hier wieder zeigte, nicht vergeblich.