Die Kunst, es allen recht zu machen

Daniel Allenbach, Der Bund (08.11.2010)

Die Liebe zu den drei Orangen, 06.11.2010, Bern

Die erste Inszenierung des Hausherrn: Am Stadttheater Bern zeigt Marc Adam «L’Amour des trois oranges» von Sergei Prokofjew – eine begeisternde Oper über die Magie der Bühne.

Wenn der Theaterdirektor vor den Vorhang tritt, bedeutet das in der Regel nichts Gutes. Welche Sängerin, welcher Sänger ist wohl erkrankt und muss sich ausgerechnet an diesem Premierenabend vertreten oder zumindest als indisponiert ansagen lassen?

Doch Hausherr (und Regisseur) Marc Adam kommt nicht zu Wort, denn sobald er die Bühne betritt, stürmt das Publikum auf ihn los. Die einen möchten eine unterhaltsame Komödie, die anderen ein Drama, die Dritten wünschen sich romantische Liebesszenen und die Vierten sinnfreies Amüsement. Natürlich sind es nicht die regulären Abonnenten, die hier die Bühne des Stadttheaters entern, doch der Chor – mit faltigen Masken und weissen Haaren als bejahrtes Theaterpublikum verkleidet – ironisiert auch den Druck, der momentan ganz real auf dem Berner Intendanten lastet. Geschickt zeigt Adam als Regisseur so den Aktualitätsbezug von Prokofjews Prolog – um den anschliessenden Opernabend als surreale Liebeserklärung ans Theater und als Beweis für den Zauber der Bühne zu präsentieren.

Sie schlüpfen aus Orangen

In der Welt der Magie spielen die mächtige Hexe Fata Morgana und der glücklose Zauberer Tchélio um das Schicksal des Kreuz-Königs und seines kranken Sohns. Der Prinz kann nur geheilt werden, wenn man ihn zum Lachen bringt. Das will Morgana verhindern, allerdings ist es ausgerechnet ihr Missgeschick, das beim Prinzen einen Lachanfall auslöst. Darauf verzaubert sie ihn und löst so eine unstillbare Liebe zu den drei Orangen in ihm aus. Aus den Orangen, die er unter Lebensgefahr erreicht, schlüpfen drei Prinzessinnen, wovon allerdings zwei in der Wüste verdursten. Als der Prinz die verbliebene Prinzessin heiraten will, greift Fata Morgana wieder ein, wird aber vom (Chor-)Publikum, das sich bereits zuvor verschiedentlich eingeschaltet hat, überwältigt – die märchenhafte Geschichte kommt zu einem glücklichen Abschluss.

Die fast schon sprechenden Kostüme von Eva Dessecker spannen einen Bogen von der Commedia dell’Arte zur Wirklichkeit und verorten in ihrer Verschiedenheit die handelnden Personen aufs Beste. Einen Raum, der ebenfalls zwischen Realität und Surrealität schwebt und so den Märchenton von Prokofjews Vorlage perfekt trifft, schafft Johannes Leiacker mit einem Bühnenbild aus je nach Lichtstimmung (Karl Morawec) bald blickdichten, bald transparenten Theatervorhängen und einer überdimensionierten Drehtür. Einzig die symbolistischen Anspielungen im dritten Akt wirken angesichts des sonst vorherrschenden subtilen Zaubers etwas gar aufgesetzt.

Auch musikalisch lässt der Abend kaum Wünsche offen. Das Berner Symphonieorchester lässt sich von Roland Kluttig zu präzisem und präsentem Musizieren bringen: Klangschön und sehr differenziert führt er das Orchester durch den Abend, wobei trotz kraftvoller Forte-Ausbrüche die Textverständlichkeit stets gewahrt wird. Auch der von Tarmo Vaask und Alexander Martin einstudierte Chor zeigt sich von seiner besten Seite und agiert gerade im Streit des Prologs als beeindruckendes Kollektiv.

Bis der Theaterstreit ruht

Niclas Oettermann gestaltet die Rolle des Prinzen als verwöhnter Nörgler sehr überzeugend und mit dunkel timbriertem Tenor, setzt allerdings stimmlich gelegentlich etwas viel Druck auf. Eine imposante Erscheinung mit majestätischem Bass verkörpert Armand Arapian als Kreuz-König, während Robin Adams als intriganter Premierminister Léandre in der Tiefe nicht seine gewohnte stimmliche Präsenz ausspielen kann. Seine Verbündete im Kampf um die Macht gibt Claude Eichenberger mit wunderbar grässlichem Kleid, süsslichem Augenaufschlag und einschmeichelnder Stimme.

Unterstützt werden die zwei in ihrem Machthunger von Fabienne Jost als mit schneidendem Sopran auftrumpfender Fata Morgana. Voller Hohn blickt sie von ihrem Wolkengebilde auf den Zauberer Tchélio (Milcho Borovinov) hinab, der musikalisch zwar nicht ganz mit Jost mithalten kann, sonst aber ein gleichwertiger Gegenspieler ist. Andries Cloete gelingt es sehr überzeugend, sich als komisch-unkomischer Trouffaldino zu präsentieren, während Gerardo Garciacano als Königsratgeber Pantalone eine weitere klangschöne Baritonfarbe zum Solistenensemble hinzufügt. Komplettiert wird es durch Solenn’ Lavanant-Linke als eindrückliche Sméraldine, Carlos Esquivel als mordlustige und bassstarke Köchin, Andrea Schwendener und Yulia Petrachuk als verdurstende Prinzessinnen sowie die noch jungen, aufhorchen lassenden Stimmen von Elisa Cenni als Prinzessin Ninette und von Benoît Capt als Windgeist Farfarello.

Am Ende der Oper ruht der Theaterstreit, das Bühnenpublikum zeigt sich begeistert. Und auch wenn es in der Realität unmöglich ist, es allen recht zu machen, dürfte Adam mit «L’Amour des trois oranges» diesem Ziel ziemlich nahe gekommen sein.