Sigfried Schibli, Basler Zeitung (13.11.2010)
Tom Ryser übernimmt sich am Theater Basel mit dem Musical «My Fair Lady»
Eine klassische Story, eine Art Archetyp: Reifer Akademiker entdeckt junge Frau, holt sie aus der Gosse, macht sie zur Dame von Welt, bis sie ihn, selbstständig geworden, verlässt. Tom Ryser peppt «My Fair Lady» zum leidlich vergnüglichen Musiktheaterstück auf.
Es ist schwer, kulturell interessiert zu sein und das Musical «My Fair Lady» nicht zu kennen. Von Frederick Loewe, einem 1904 geborenen Wiener, komponiert und von Alan Jay Lerner getextet, hat es seit 1956 Tausende Aufführungen erlebt – am Broadway, dann in London, in Berlin, im Film mit Audrey Hepburn und Rex Harrison, in vielen Sprachen und ungezählten Produktionen.
Jetzt hat sich der Regisseur Tom Ryser («Ursus und Nadeschkin», «Sekretärinnen», «Hair») des Erfolgsstücks bemächtigt und es nach Regietheatermanier ein bisschen aufgefrischt, wie wenn er die alten angestaubten Bilder von «My Fair Lady» aus dem kollektiven Langzeitgedächtnis ausradieren und durch zeitgemässere Symbole rund um das Fremdsein hier und jetzt ersetzen wollte. Doch bleibt er auf halbem Weg stehen, unentschieden zwischen Klassikerpflege und Innovationsdrang. Am Ende sieht das Zeitgemässe ziemlich alt und das Archetypische flach aus.
akrobatisch. Die Handlung beginnt im Foyer des Theaters Basel mit einem Ballett akrobatischer Raumpflegerinnen und trinkfester Bühnenarbeiter. Dort draussen lernen sich Eliza Doolittle und Professor Henry Higgins kennen. Erstere nicht wie im Original eine unschuldige Londoner Blumenverkäuferin, sondern ein verruchtes, Michael Jackson («I’m Bad») krakeelendes Strassengirl mit allen zwielichtigen Reizen des Ungehobelten. Letzterer wie in der Vorlage ein Sprachwissenschaftler, der auffällige Dialekte fein säuberlich notiert, analysiert und in seinem Heim auf unzähligen Tonbändern archiviert.
Eliza ist (wie die Sängerin Agata Wilewska) Polin und spricht (anders als diese) mit krass polnischem Akzent. Sind wir da vielleicht in Berlin gelandet? Schon möglich. Ihr mit allen Mitteln den Akzent zugunsten korrekter Aussprache auszutreiben, ist der ganze professionelle Ehrgeiz des Professors – neben seinem rein privaten Bestreben, eine attraktive junge Frau in seine Abhängigkeit zu bringen.
fanatisch. Bewundernswert, wie Agata Wilewska vom Sprechen über den Sprechgesang ins Singen gleitet, intonationssicher und tonschön. Dirk Glodde spricht, spielt und singt die Pygmalion-Figur des Professor Higgins rollendeckend – jeder Zoll ein ewiger Junggeselle und im Alltagsleben unerfahrener Gelehrter, jede Silbe ein fanatischer Sprachperfektionist. An seiner Seite ein anderer Hagestolz, Colonel Pickering (Christoph Mory), der nicht so rasch die Nerven verliert und sich als guter Geist des Hauses Higgins erweist. Am Ende, als Eliza entnervt die Freiheit gesucht hat, ist er es, der Scotland Yard anruft, um die Vermisstenmeldung für die einstige «kannibalische Schlampe» aufzugeben. So viel England bleibt dann doch noch im Stück.
Aber da ist auch noch Elizas Vater Alfred, ein Dubliner Ire mit herbem Akzent (der Dubliner Ire Andrew Murphy), der ähnlich wie seine Tochter den Aufstieg in den Mittelstand durchmacht und damit noch weniger klarkommt als sie. Für Zucht und Ordnung im Hause Higgins sorgt die Hausdame Mrs. Pearce (Sigrun Schneggenburger), die eine erstaunliche Wandlung von der Anstandsdame zur ekstatischen Bodenturnerin durchmacht und für Heiterkeit sorgt. Als unermüdlichen Brautwerber und aalglatten Schnulzentenor Freddy erlebt man Michael Pflumm.
komisch. Regisseur Ryser hat nicht nur den Anfang, sondern auch den Schluss des Musicals bearbeitet und in die Mitte Szenen von slapstickhafter Komik implantiert. So vor allem bei der Sprachübung «Es grünt so grün…», die durch Überzeichnung zur virtuosen Slam- Poetry-Etüde in konkreter Poesie wird und von der Eliza-Darstellerin ein schnelles Mundwerk verlangt – kein Problem für Agata Wilewska, die für ihr Sprachstakkato Sonderapplaus erhält. Weniger das Mund- als das Beinwerk ist gefordert bei den Tänzerinnen, die als fliegende Putzfrauen über die Bühne flitzen und dem Stück einen Hauch von Revue-Surrealität hinzufügen.
Ob die «Lady» in London, Berlin oder in Basel spielt, ob sie uns heute etwas zu sagen hat oder nur die Ohren kitzelt, ist offenbar egal. Hauptsache, die Pointen sitzen. Was dieses Musical durch die Transposition in einen unbestimmten Raum gewinnen soll, bleibt das Geheimnis des Produktionsteams. Es ginge auch klassischer und wäre dabei stringenter. Unbestreitbar aber ist, dass die Verwandlungen im Bühnenbild von Silvia Merlo und Ulf Stengl mit grosser Virtuosität vonstattengehen.
spartanisch. Die von Studienleiter David Cowan geleitete Premierenaufführung konnte den Bruch zwischen Musik und Schauspielerei nicht kitten. Während die Basel Sinfonietta beherzt und vor allem im Blech laut im Graben spielte, waren die gesprochenen Texte bisweilen kaum verständlich und die ohne Verstärkung gesungenen schon gar nicht – ein Zweiklassensystem von verstärkten Dialogen und unverstärkten Gesangsnummern, das dem theatralen Erlebnis abträglich ist. Den von Henryk Polus einstudierten Theaterchor hat man schon präsenter singen gehört. Die Musik machte am Premierenabend einen unterforderten Eindruck. Da ist noch nachzubessern.
Zuletzt eine als Opernhaus-des-Jahres-Party ausgegebene Selbstfeier mit Reden und peinlich kargem Buffet.