Alfred Schlienger, Neue Zürcher Zeitung (15.11.2010)
Frederick Loewes «My fair Lady» und Christoph Marthalers Replik «Meine faire Dame» am Theater Basel
Warum nicht das Pferd am Schwanz aufzäumen? Die irrwitzige Parodie vor dem raffiniert entschlackten Original? Wahrscheinlich wusste niemand ausserhalb des Produktionsteams so recht, was Christoph Marthaler, nur einen Tag nach der Musical-Premiere von «My fair Lady», mit seiner spiegelbildlichen Replik «Meine faire Dame» im Schilde führte. Was im Vorfeld der Uraufführung zu vernehmen war, diente wie üblich nur der gezielten Vernebelung. Die freudige Erregung im Publikum über die Rückkehr des verlorenen Sohnes auf die Basler Schauspielbühne war aber bereits im Foyer mit Händen zu greifen. Und dann leistete sich der Heimkehrer auch noch einen Spass, von dem wohl nicht einmal sein Team etwas ahnte: Mit bekümmerter Miene trat er vors Publikum und verkündete, die Samstagssouffleuse sei leider indisponiert; da heute aber Freitag sei, könne die Vorstellung trotzdem stattfinden. Das Programmheft führt denn auch neben den «Schauspielern und ihren Darstellern» (sic!) gleich elf, zum Teil promovierte Souffleusen auf. Wurde die Schwerstarbeit des genau gesprochenen Wortes je ernster genommen?
Liebe zum Fehlerhaften
Und schon trotten die Spieler in Anna Viebrocks schräg verzogenes Sprachlabor wie Verhöropfer in die Folterkammer, während Bendix Dethleffsen (musikalische Leitung) dazu kräftig die Tasten des Flügels massiert. Graham F. Valentine gibt mit virtuos schnarrender Stimme und horrendem Tempo den phonetischen Zuchtmeister Professor Higgins. Keine Chance für die Sprachbesserungsbedürftigen, die sich hinter ihre Pültchen klemmen, den rasenden Ansprüchen zu genügen. Aber die ständigen Versprecher in den quälerischen Zungenbrechern erzeugen immer neue Wortspielereien. Ein hintersinniges Gaudi. Nikola Weisse ist mit gut vierzig Jahren Verspätung Higgins' Eliza. Mit ihrer Perücke und dem stumpfen Gang kommt sie daher wie eine Loriot-Figur und geht mit ihrem Henry in einen Ohrfeigen-Nahkampf, der sich gewaschen hat. Alle tragen sie Brillenmodelle, die die nächste Retrowelle vorausnehmen, die Männer zusätzlich weisse Socken, und an den Pantoffeln hängen noch die Preisschilder (Kostüme Sarah Schittek). Marthaler sammelt liebevoll auf, was der Zeitgeist auf die No-go-Listen setzt.
Es ist diese Liebe zum Fehlerhaften, zum Verhemmten und Verklemmten, die den Abend antreibt. Und gleichzeitig weitet Marthaler die Bereiche des theatralisch Darstellbaren in ungeahnte Zonen aus. Er macht durch Überdehnung das Spannungslose spannend, er lehrt uns hinschauen auf die Schönheit und Komik des Gewöhnlichen. Er spielt gekonnt mit den musikalischen Mitteln von Wiederholung und Variation, Verlangsamung und Beschleunigung. Und er weiss Pausen zu setzen. Seelenruhig und hingebungsvoll verzehrt das ganze Ensemble einen Apfel – sonst passiert gar nichts. Zu den Höhepunkten, die das Publikum zu Ovationen hinreissen, gehören die Gesangsnummern bekanntester Lieder, wie man sie noch nie gehört hat. Tora Augestad und Michael von der Heide singen «Silent Night» im Duett umwerfend gebremster Selbstvergessenheit. Und wenn Carina Braunschmidt die Schnulze «Last Christmas» von Wham als knochentrockenen Sprechgesang intoniert, möchte man mit ihr gleich losheulen. Karl-Heinz Brandt rutscht wie ein Lausbub die Treppengeländer runter und trällert eine «Lohengrin»-Arie, während Mihai Grigoriu als Frankenstein-Monster das zweite Klavier bearbeitet.
Das alles ist in der gezielten Zurücknahme ganz exzellent gespielt. Marthaler bricht das Hehre und adelt das Banale. Und macht dadurch beides menschlich. Manchmal verzieht sich einer in ein Kabäuschen wie zum Toilettengang und singt in letzter Verzückung. Von Brian Adams bis Kraftwerk, von Mozart bis Wagner reicht der musikalische Bogen. Und weil es so grün grünt, wenn Spaniens Blüten blühn, dürfen auch andere Vokalkaskaden dran glauben, bis uns schwindlig wird. Frenetischer Applaus mit Bravos wie aus einer Kehle zum Schluss.
In der Premiere von «My fair Lady» am Abend davor mutiert das Blumenmädchen Eliza (Agata Wilewska) aus dem Londoner Arbeitermilieu zu einer burschikos-aufmüpfigen Göre unserer Tage mit polnischem Migrationshintergrund, die zum Auftakt im Foyer gleich mit Michael Jacksons «I'am bad» loslegt. Das farbige Londoner Markttreiben des Originals ist übersetzt in die Theatersituation der spass- und trinkfreudigen Bühnenarbeiter.
Professor Higgins (schön irre und verbohrt: Dirk Glodde) geht mit seinem Freund Pickering (Christoph Mory) die Wette ein, das ungeschliffene Mundwerk des Mädchens so zu polieren, dass sie auf einem Ball der besten Gesellschaft für eine Herzogin gehalten werde. Ihr Vater Alfred (temperamentvoll und witzig: Andrew Murphy) zieht seinerseits Vorteile aus Higgins' Ehrgeiz, wird aber durch seinen Aufstieg in den Mittelstand nur unglücklich. Der Probelauf mit Eliza beim Pferderennen in Ascot gerät voll und ganz zum Fiasko, doch verliebt sich der halbadlige Freddy (Michael Pflumm) so unsterblich in die junge Schöne, dass er die ganze Pause herzerweichend weitersingt. So manche Dame wäre da wohl liebend gerne sitzen geblieben.
Ohne Kitsch
Der festliche Ball nach der Pause wird zu Higgins' Triumph, Eliza besteht die Prüfung, und er gewinnt die Wette – verliert aber Eliza, die sich von ihm emanzipiert. Durch den Abend mit seiner wandlungsfähigen Bühne (Silvia Merlo, Ulf Stengl, Kostüme Uta Meenen) schwirrt auch das witzige Staubsaugerballett (Choreografie Eva Gruner) mit akrobatischer Leichtigkeit. Hinreissend komisch auch Sigrun Schneggenburger als Mrs. Pearce. Wie sie besoffen in ihre Schuhe zu steigen versucht, ist eine ausgewachsene Marthaler-Nummer. Romantische Menschen werden vielleicht den einen oder andern Schmelz des Originals vermissen. Tom Rysers schlanke Regie beweist aber, dass man das Stück heute ohne Kitschanleihen auf eine moderne Bühne bringen kann. Die Basel Sinfonietta musiziert unter der Leitung von David Cowan souverän und verleiht der Produktion mit ihren über hundert Beteiligten allen Schmiss.