Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (15.11.2010)
«Guillaume Tell» von Gioachino Rossini im Opernhaus Zürich
Mit «Guillaume Tell» von Gioachino Rossini zeigt das Opernhaus Zürich eine Rarität. Musikalisch steht der Abend auf hohem Niveau. Und mit Erfolg versucht der Regisseur Adrian Marthaler, den im Stück besungenen Mythos zu befragen.
Marthaler was here. Tatsächlich, im Opernhaus Zürich? Gewiss doch, kein Problem. Denn die Rede ist nicht von Christoph Marthaler, der war, siehe unten, in Basel – logisch. Nein, ans Opernhaus Zürich gerufen war Adrian Marthaler, der Bruder, der als musikalischer Fernsehregisseur bekannt geworden ist, bis 2007 als Leiter der Abteilung Kultur des Schweizer Fernsehens tätig war und im September 2008, als Koproduktion zwischen Opernhaus und Fernsehen, die «Traviata» im Zürcher Hauptbahnhof inszeniert hat. Im Opernhaus hat er sich nun nicht einer Säule des Repertoires zugewandt, sondern dem «Guillaume Tell» von Gioachino Rossini, der diesmal, anders als bei der Produktion von 1987, in der französischsprachigen Originalfassung von 1829 gegeben wird.
Hier und jetzt
Schon damals, man schrieb die Ära Groszer, war neben dem Dirigenten Nello Santi ein Mann der visuellen Künste tätig. Der inzwischen verstorbene Filmregisseur Daniel Schmid warf einen liebevollen Blick auf das in und für Paris geschriebene, eigenartig zur Grand Opéra neigende Werk. Er verband es, in leichtem Anachronismus, mit der Zeit, da die Bilder laufen lernten, und erzielte eine Atmosphäre duftender Nostalgie, ähnlich der in seinem Film «Hors saison». Adrian Marthaler begegnet dem Stück mit ebenso viel Empathie, und er erzeugt nicht weniger nachhaltig wirkende Stimmung im Saal – auch wenn er die Vorlage gerade andersherum aufzäumt. Er möchte die (übrigens ausgesprochen spannende) Geschichte von Wilhelm Tell, dem bösen Gessler und dem Apfelschuss als Mythos zeigen, der vielleicht in der Geschichte keine wirkliche Grundlage hat, der aber in uns allen hier und heute wirkt.
So spielt das Stück vor der herrlichen fotorealistischen Alpenkulisse, die der Bühnenbildner Jörg Zielinski erdacht hat und von Elfried Roller aufs Vielfältigste beleuchten lässt. So sind zudem auf der Bühne all jene Symbole versammelt, die im In- wie im Ausland das Schweizertum verkörpern – vom Branchli zur gezackten Schokolade, vom Goldbarren zum Karabiner, vom Taschenmesser zur roten Armbrust von «Swiss Made». Und so herrscht schliesslich den ganzen Abend über ein Kommen und Gehen von Menschen, wie man ihnen tagsüber irgendwo auf der Strasse begegnen könnte. Von da ist es dann ein kleiner Schritt zur EU, als deren Vertreter der tyrannische Vogt Gessler (Alfred Muff, wie schon 1987) und sein beflissener Bürogehilfe Rodolphe (Andreas Winkler) erscheinen. Ob der Ohnmachtsanfall, den einer von Gesslers Schergen an der Premiere erlitt, Teil der Inszenierung bildet, liess sich nicht eruieren. Es hätte aber durchaus seine Logik, denn 1987 war Nello Santi kurz nach der Ouvertüre der Taktstock in Brüche gegangen.
Manches mag da eine Spur zu dick aufgetragen sein. Dass zur Ouvertüre, während deren sich das multikulturell eingefärbte Schweizervolk der Statisten präsentiert, auch ein kürzlich in den Ruhestand entlassener eidgenössischer Magistrat mit Pöstlervelo, Bundesordner und situationsgerechtem Seufzer auftritt, zielt erfolgreich auf die Lachmuskeln, ist aber genau jenes My zu viel, an dem die sonst harmlos opernhafte Inszenierung leidet. Überhaupt die Ouvertüre: Muss sie auf Teufel komm raus bebildert werden? Es handelt sich hier um ein hinreissendes Stück in vier Teilen, das vom Orchester der Oper Zürich unter der Leitung des Rossini-Spezialisten und Altmeisters Gianluigi Gelmetti brillant dargeboten wird – nur kann man nicht richtig zuhören, weil die Bühne alle Aufmerksamkeit für sich beansprucht. In der Folge ist es allerdings so, dass Marthalers szenische Einrichtung (mit den sprechenden Kostümen von Marcel Keller) nicht nur immer wieder für Erheiterung sorgt, sondern mit ihrem ironisierenden Grundzug auch ein produktives Mass an Distanz schafft.
So mag man denn im Zuschauen das eine oder andere Mal auf den einen oder anderen Gedanken kommen, was bekanntlich auch im Opernhaus Zürich nicht verboten ist. Und kann man, gleichsam von aussen her, immer genauer hinhören, was an diesem Abend entschieden von Vorteil ist. Gianluigi Gelmetti vertritt nicht die historische Aufführungspraxis wie Thomas Hengelbrock, für den er kurzfristig eingesprungen ist. Aber er ist ein alter Fuchs in diesem Repertoire, kennt die Partitur wie nur wenige und setzt sich mit ansteckender Emphase für das Spätwerk Rossinis ein. Grossartig, wie atmend die Instrumentalsolisten mit den Sängern konzertieren. Und begeisternd, wie farbig das Orchester klingt, wie entspannt die Rhythmen ihren Sog entwickeln – ja überhaupt, mit welchem Sinn die Tempi dem Moment angepasst und moduliert werden. Das Orchesterrubato beherrscht Gelmetti meisterlich, und wenn etwa Eva Mei in der Partie der zu den Schweizern übertretenden Prinzessin Mathilde Zeit braucht für ihre Koloraturen, steht ihr der Dirigent pragmatisch bei.
Hohes C
Gesungen wird prächtig. Von dem durch Ernst Raffelsberger vorbereiteten Chor, dessen Damen arg vibrieren, etwas weniger, vom Ensemble aber fast durchgehend. Michele Pertusi gibt einen warm timbrierten Tell, Reinhard Mayr einen würdigen Furst, während Antonio Siragusa als Arnold Melcthal – an der Seite der etwas grösseren Mathilde erinnert er an Sarkozy – seine hohen C ohne Mühe stemmt. Auch schön leise kann er singen, nur mit dem Französischen hapert es – das «giusto ciel», das ihm an der Premiere entfuhr, liegt ihm näher. Wiebke Lehmkuhl ist die perfekte Gattin Tells, und Martina Janková versieht Tells Sohn, der hier eine Tochter ist, mit Liebreiz. All das eingekleidet in die wunderbarste Musik. Nach dem Sensationserfolg der Pariser Uraufführung des «Guillaume Tell» hat sich Rossini vom Opern-Business verabschiedet. Man kann es verstehen.