Sibylle Ehrismann, Zürichsee-Zeitung (15.11.2010)
Opernhaus Premiere von Rossinis «Guillaume Tell» - Schweiz von heute aufs Korn genommen
Die Schweiz als Mythos. Fernseh-Regisseur Adrian Marthaler inszeniert am Opernhaus Zürich Rossinis «Tell» mit starken, provokativen Bildern zur Schweiz. Am Samstag war Premiere.
Den Freiheitshelden Wilhelm Tell haben wir dem deutschen Dramatiker Friedrich Schiller zu verdanken. Die demokratische Schweiz mit ihrem Volkshelden, der Protest des aufgeklärten Individuums gegen Fremdherrschaft, das waren gerade für die Deutschen vorbildliche Eigenschaften. Rütlischwur und Innerschweiz, herrliche Alpenlandschaft und heftige Naturgewalten, das alles hat auch Rossini in Frankreich zu einer Grande Opéra inspiriert, es war seine letzte. Da ist zuerst die populäre, oft auch im Konzertsaal gespielte Ouvertüre. Adrian Marthaler bebildert sie expositionshaft, bringt seine Regie-Ideen als «Leitmotive» bereits hier auf die Bühne. Der Rückenprospekt zeigt eine herrliche Bergkulisse, davor stehen vier rote «Sitzbänkli» mit Menschen von heute drauf, den Rücken zum Publikum, und schauen sich diese herrlichen Berge an (Bühnenbild Jörg Zielinski). Da fährt Bundesrat Moritz Leuenberger auf einem Militärfahrrad auf die Bühne (Passhöhe) - ein Raunen geht durchs Publikum. Er ist es tatsächlich, seufzt tief, stellt das Fahrrad hin und setzt sich zu den anderen auf eine Bank.
Spontaner Applaus
Nach dieser witzig bebilderten Ouvertüre gibts spontanen Applaus. Auf der Passhöhe spielt auch der erste Akt, Hedwige, Tells treue Gattin, und ihre Tochter Jenny - eben nicht Tells Sohn Jemmy - sind mit ihren rot-weissen, naiv-hübschen Röcken unter den Touristen. Der Chor - ein Querschnitt durch unsere heutige, multikulturelle Schweizer Gesellschaft, sitzt auf den Bänken und schaut dem Treiben auf der Bühne zu. Auf Sockeln stehen Sinnbilder für die Schweiz: eine riesige Toblerone, eine teure Armbanduhr, ein Gewehr, ein teurer Cognac, der Schweizer Bundesbrief und so weiter.
Auf diese Art und Weise wird die Regie durchgezogen: Die Jäger sitzen im zweiten Akt mit echten Gewehren in einem stilisierten Wald, daneben das Denkmal für Friedrich Schiller. Die Verschwörer treffen sich auf dem Rütli, rücken in den Bäumen eng zusammen. Da spazieren unverhofft die «modernen» Figuren aus der Ouvertüre an dieser Verschwörung vorbei, schauen flüchtig hin und eilen schnell weiter. Und im Hintergrund die herrlichen Berge, wunderschön beleuchtet.
Die Unterdrücker, das sind Funktionäre der Europäischen Union, die auch gleich ihre Europa-Fahnen mitbringen. Dazu gehören auch die anfangs verwundet auftretenden Wirtschafts- und Bankfiguren mit Köfferchen und Handy. Der berühmte Apfelschuss von Tell, der wird nur angedeutet, und der Machtkampf zwischen Gessler und Tell entzündet sich an einem Sockel und einer verhüllten Statue, die bei der Enthüllung eben nicht Gessler, sondern Tell in Altdorf darstellt. In dieser charmant ironischen, teilweise auch bitterbösen Regie von Adrian Marthaler, welche die Schweiz von heute aufs Korn nimmt, verlieren die historischen Figuren an Bedeutung und Profil. Sie wirken wie schablonisiert in einer Schweizer Welt, die nicht die ihre ist. Die Liebesgeschichte von Arnold zur Habsburger Prinzessin Mathilde, von Rossini in dieser Oper stark gewichtet, wirkt wie aufgesetzt, sie passt nicht in dieses Konzept.
Dabei singt Antonino Siragusa diese anspruchsvolle, hoch gesetzte Tenorpartie als Debüt mit souveräner Stimmführung und betörendem Schmelz in der Trauer um den ermordeten Vater. Und Eva Mei, ebenfalls debütierend, strahlt als Mathilde mit ihrer hellen, lupenreinen Sopranstimme eine hinreissend lichte Zuversicht aus. Insgesamt wirkt die Personenführung jedoch nicht besonders inspiriert. Guillaume Tell tritt in weissem Schafswollen-Pullover auf, von Michele Pertusi auch in den vielen rezitativischen Partien mit eindrücklicher Gestaltungskraft gesungen. Dazu passen die Mezzo-Sopranistin Wiebke Lehmkuhl als Hedwige und Martina Jankova als kindliche Jenny - beides Rollendebüts - mit ihrer einfühlsamen und flexiblen Stimmgebung ausgezeichnet. Grossartig auch Alfred Muff als Gessler und Pavel Daniluk in seinem Debüt als Melchthal.
Einige Koordinationsprobleme
Zwischen der Bühne und dem Orchestergraben gab es jedoch einige Koordinationsschwierigkeiten. Rossinis «Tell» ist in erster Linie eine Choroper. Der musikalisch und szenisch stark präsente Chor (Einstudierung Ernst Raffelsberger) wirkte vor allem zu Beginn ziemlich wacklig, doch gelangen die Männerchor-Einlagen auf dem Rütli besonders schön. Gianluigi Gelmetti hatte die undankbare Aufgabe, relativ kurzfristig für den zurückgetretenen Thomas Hengelbrock zu dirigieren. Er schlug eine eher forsche Gangart an, insgesamt wirkte das Orchester etwas laut und undifferenziert, was der Musik insgesamt eine herbe heroische Note verlieh. Das wiederum passte gar nicht in diese witzig-ironische, so gar nicht pathetische Inszenierung.
Das Schlussbild wird - wie die herrlich bebilderte Ouvertüre - in starker Erinnerung bleiben. Tell und seine Mitstreiter besingen im Ensemble die gewonnene Freiheit, eigentlich bei strahlendem Sonnenschein. Doch bei Marthaler bleibt die Bühne leer. Ein dunkler Sternenhimmel offenbart die Umrisse Europas, und vor dieser Kulisse schwebt die Schweiz - vereist wie ein Gletscher - an Europa vorbei. Die Sänger singen ihre Freiheits-Hymne im Zuschauerraum verteilt, voller Inbrunst und musikalischer Kraft. Eine musikalisch wie szenisch grossartige Schlussapotheose auf das Schweizerland.