Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (15.11.2010)
Einen Tag nach seinem Bruder Christoph in Basel hatte am Samstag Adrian Marthaler in Zürich Premiere. Am Opernhaus, mit Rossinis «Guillaume Tell» in der ursprünglichen französischen Fassung. Unter den Statisten: ein Polit-Rentner.
Der Coup ist gelungen: Zur weit über die Rossini-Fangemeinde hinaus bekannten Ouvertüre versammelt Adrian Marthaler - fast wie in seinen legendären Verfilmungen für das Schweizer Fernsehen - ganze Scharen von Statisten: Schweizer auf Parkbänkchen vor der Kulisse der schroffen Alpenkette. Einer dieser Durchschnittsschweizer erhält einen besonderen Auftritt: Es ist alt Bundesrat Moritz Leuenberger. Die Staatskarosse hat er offenbar abgeben müssen, ein Ordonnanz-Fahrrad der Schweizer Armee und zwei Bundesordner sind ihm geblieben. Erschöpft setzt er sich, nachdem er artig gefragt hat, neben das junge Paar mit dem Kind.
Eröffnung kann sich sehen lassen
Ein Gag Marthalers, leider nur für das Premierenpublikum. Aber kein aufgesetzter: Leuenberger sass schon als Zürcher Regierungsrat in praktisch jeder Premiere, und auch als Bundesrat war er oft in Pereiras Direktionsloge zu erblicken. Aber auch ohne alt-bundesrätliche Beteiligung kann sich Marthalers Eröffnung sehen lassen. Die Durchschnittsschweiz in Trachten und Anzügen, Junge und Rentner, aber auch Schwarze und Inder in ihren farbenprächtigen Gewändern, eine Frau im Ganzkörperschleier, der Türke zwei Schritte vor seinen zwei Frauen mit Kopftuch. «Wollen wir sein ein einzig Volk von Brüdern?» flimmert dazu als Frage die literarische Vorstellung Schillers vom Rütlischwur über die Leinwand.
Marthaler gelingen noch ein paar weitere solch suggestiver Bilder. Beim Hirtenfest zum Beispiel versammeln die Bauern die Ikonen schweizerischen Nationalstolzes: Sackmesser, Käse, Uhren, Gold. Die Abzocker von der Bahnhofstrasse tragen die Blessuren der Finanzkrise mit Krücken und Korsetten zur Schau, und Gesslers Schergen fallen unter Europas Sternenbanner in der Innerschweiz ein, was das Zürcher Premierenpublikum mit Szenenapplaus quittiert.
Dilettantische Personenführung
Das sind die spannenden Momente der Inszenierung. Adrian Marthalers Schwäche dagegen ist augenscheinlich der Mangel an Handwerkszeug und Erfahrung als Theaterregisseur. Im dritten und vierten Akt ist seine Personenführung geradezu dilettantisch und stiftet mehr Verwirrung, als dass sie uns die Figuren oder eine Handlung näher bringen könnte.
Den Sängern immerhin bleibt auf diese Weise viel Platz, sich auf ihre schwierigen Partien zu konzentrieren, was sie mit unterschiedlichem Resultat fertig bringen. Eva Mei als Mathilde etwa brilliert mit ihrer ausnehmend schön timbrierten Stimme, steht in den akrobatischen Koloraturen jedoch nicht immer sicher. Der Tenor Antonino Siragusa hat als Arnold mit seinen vielen sehr hohen Tönen nicht die geringste Mühe, nur leider heisst «sehr hoch» für ihn auch immer gleich «sehr laut». Ebenfalls ohne Mühe bewegt sich Michele Pertusi in der Titelrolle, und bei ihm sind weder Höhe noch dynamische Schattierungen, weder Klangfarben noch Dramatik in irgendeiner Weise ein Problem. In den kleineren Partien brillieren die Guten: Martina Janková als Jemmy und Wiebke Lehmkuhl als Hedwige, während die Bösen, Gessler von Alfred Muff und Rodolphe von Andreas Winkler, blass bleiben.
Eigentlich hätte Thomas Hengelbrock diese Produktion dirigieren sollen, und von ihm wären wohl spannende Lösungen in der klangfarblich vielseitigen Partitur zu erwarten gewesen. Das Opernhaus konnte seine Bedingungen an Probenzeit und Orchesterbesetzung jedoch nicht erfüllen. Mit Gianluigi Gelmetti sprang ein Repertoire-Routinier in die Bresche. Er tat es sehr routiniert, um nicht zu sagen pauschal, klangfarblich ohne besondere Akzente, blieb aber dem Stück und den Anforderungen an die Begleitung der Sänger nichts schuldig.
Das Ja bleibt eine Behauptung
Schillers Frage wird am Ende bejaht, aber das bleibt Behauptung. Zu wenig hat Marthaler getan, um uns diese Antwort finden zu lassen. Nur die Musik, wieder einmal, schafft die Affirmation der Aussage: Der Schlusschor Rossinis, ein Hohelied der Freiheit, das jede Nationalhymne in den Schatten stellt, erklingt gewaltig von allen Rängen, während auf der Bühne ein Eisberg vor dem Sternenhimmel mit den Umrissen Europas vorbeidriftet. Er hat die Form der Schweiz ...