Dann lieber Tell bei den Uiguren

Herbert Büttiker, Der Landbote (15.11.2010)

Guillaume Tell, 13.11.2010, Zürich

Die Schweiz hat ein Problem. Das Opernhaus Zürich bürdet es Rossini auf, dessen «Tell» in der neuen Inszenierung nicht zu sich selber kommen kann. Erfolg hatte er aber auch so.

Mit der Begründung, die Figuren Schillers seien in der «Verzeichnung» der Rossini-Oper auf der Bühne unmöglich, erschien das Werk in Deutschland auch schon unter dem Titel «Der korsische Tell». Im habsburgischen Mailand verlangte die Zensur die Verlegung der Handlung nach Schottland. «Verlegenheitslösungen» wie diese gehören offenbar zu «Guillaume Tell» seit seiner Uraufführung 1829 in Paris. Im Opernhaus Zürich haben wir jetzt eine Geschichte über EU-Truppen, die über den Schweizer Käse herfallen und die Toblerone mit dem Beil zerhacken, wir haben einen prahlerischen Volkshelden inmitten hinterwäldlerischer Gesinnungsgenossen, der sein eigenes Denkmal bewundert und den gelangweilten EU-Statthalter so reizt, dass er von ihm gezwungen wird, mit der helvetischen Gütesiegel-Armbrust seine Fähigkeiten zu beweisen – wirklich ein Sonderfall.

Cartoon und grosse Oper

Ausgedacht hat sich diese Geschichte der Schweizer Regisseur Adrian Marthaler, der also einmal mehr des Zeitgeistes wegen Rossini büssen lässt. Denn auch dieser ironische Umgang mit dem Tell-Stoff ist eben doch nur wieder eine Vereinnahmung, die die Sicht auf das eigentliche Geschehen und die Substanz des Stücks verhindert und es in die inzwischen ja auch schon sehr abgenutzte Schablone der Mythos-Demontage presst.

Vielleicht wäre dem Werk auf Schweizer Bühnen mit einer eigentlichen Umsiedlung sogar gedient. Wie wär es mit der Ausschaffung Tells zu den Uiguren? Schauplätze in der Geschichte oder in der Gegenwart zu finden, ist leider nur allzu leicht für eine Erzählung, die von Terror und Verschwörung, von Gewalt und Gegengewalt handelt, von Menschen, die sich am liebsten heraushalten möchten, aber tief verstrickt sind, und von solchen, die einfach nur noch beten können. Es käme dann heraus, dass das «Märchen mit dem Hut und Apfel» (Schiller) gar nicht den Schweizern gehört, sondern dass es dem Leid und der Sehnsucht der Welt gewidmet ist, unendlich berührend in der Reinheit der musikalischen Imagination eines grossen Komponisten (und Menschen).

Überhaupt müsste Satire schlank sein, Rossinis Oper aber ist von den Dimensionen her eine Grand Opéra, und gross angerichtet wird sie auch im Opernhaus. Da ist der grosse musikalische Apparat mit Chor und Orchester aufgeboten, der unter der Leitung von Gianluigi Gelmetti in gewohnter Pracht präsent ist, und da ist für den Cartoon das aufwendige Bühnenbild von Jörg Zielinski, dessen Gebirgsprospekt ein Meisterwerk der Beleuchtung ist (Elfried Roller) und in dem viele rote Parkbänke zum Sitzen einladen. Sie werden nicht nur von den Unbeteiligten genutzt, die sich als Zuschauer auf der Szene tummeln, dankbar sind auch die Protagonisten, die, wenig ausgefüllt von ihrem Tun, lieber sitzen als herumstehen.

Momente der Musik

Sie haben ein Glaubwürdigkeitsproblem. Wenig Profil erhalten die Nebenfiguren, es sei denn, man versteht darunter die Beamten-Charge von Andreas Winkler in der Rolle des Rodolphe. Alfred Muff als Gessler beschränkt sich darstellerisch auf das Mittel der Lautstärke, Michele Pertusi als Tell braucht lange, bis er zur prägnanten Deklamation gelangt und in der Preghiera «Sois immobile» sich stimmlich entfaltet. Hier gewinnt der Abend in der Überzeugungskraft der Musik, und dieses Glück beschert einem vor allem Antonio Siragusa als Arnold mit dem Glanz seines intensiven Tenors und seiner Phrasierung voller Elan. Auch Eva Mei als Mathilde, manchmal an der Grenze der Überforderung, lässt die Tragik ihrer Figur berührend aufscheinen und trägt dazu bei, dass die Duettszenen respektive die Beziehungsgeschichte dieses Paares fesselt.

Im vierten Akt, wo die Tell-Geschichte auf dem See beziehungsweise ausserhalb der Szene weitergeht und es auf der Bühne nur um Gesang geht, spürt man, was in dieser Oper steckt. Da gibt es ein Aufhorchen beim bewegend konzertierten Terzett und Duett der Frauenstimmen (neben Eva Mei Wiebke Leimkuhl als Hedwige und Martina Janková als Jemmy), und hier sind wir im Herzen von Rossinis «Tell» mit «Asile héréditaire», Arnolds Arie, die dem Schmerz um den Verlust des Vaters gilt und eben des Asyls, das für den Sohn das Haus war, vor dem er zum letzten Mal steht.

Arnolds Arie ist auch ein Echo zu Tells «Sois immobile», jener melodisch kraftvoll-innigen Beschwörung von Vertrauen und Verbundenheit, mit der sich der Vater vor dem Schuss an sein Kind wendet und damit eine ewige Fermate ins dramatische Tableau setzt. Sie wäre noch weit wirkungsvoller, wenn die Szene nicht als banale Mythen-Demontage, sondern tatsächlich als dramatisches Tableau inszeniert wäre.