Sigfried Schibli, Basler Zeitung (15.11.2010)
Gioachino Rossinis Oper «Guillaume Tell» erstmals am Opernhaus Zürich
Er wurde bekannt mit Musikfilmen fürs Schweizer Fernsehen und als Bruder von Christoph Marthaler, geriet als Kulturchef des Schweizer Fernsehens etwas in Vergessenheit und taucht jetzt wieder als Opernregisseur auf. Adrian Marthaler wagt sich in Zürich an Rossinis «Guillaume Tell».
Früher oder später hat es zur Kombination Marthaler/Tell kommen müssen. Allerdings ist nicht der berühmt-berüchtigte Regisseur von Stücken wie «Wenn das Alpenhirn sich rötet / Tötet, freie Schweizer, tötet» der Inszenator von Rossinis 1829 in Paris uraufgeführter Oper über den Innerschweizer Freiheitshelden, sondern Christoph Marthalers älterer Bruder Adrian. Er wahrt den Stücktext, abgesehen von Kürzungen im vierten Akt, und geht insofern ganz traditionell vor.
Den Mythos vom Rütlischwur gradlinig und glaubwürdig zu erzählen, will heutigen Historikern nicht mehr gelingen – Thomas Maissen spricht im Programmheft unzweideutig von «Befreiungssagen» und legt dar, dass der angebliche Freiheitskampf der Innerschweizer Rebellen in Wirklichkeit der Herrschaftssicherung der lokalen Eliten galt. Daran kann eine intelligente Opernregie nicht vorbeisehen.
IRONIE. Nun verlangt Theater andere Mittel als eine Geschichtslektion. Marthaler wählt einen Approach an die Oper, der von Ironie gezeichnet ist – einer Ironie, die das ganze Stück prägt und ihm gleichsam einen doppelten Boden einzieht. Das beginnt damit, dass noch während der Ouvertüre alt Bundesrat Moritz Leuenberger – ja, der echte! – ein Militärvelo über die Bühne schiebt und sich zu den stummen Bergbetrachtern gesellt, die auf roten Holzbänken dasitzen. Solche Zuschauer wird es immer geben, sei es beim Rütlischwur, beim Apfelschuss oder beim Schlussjubel der gegen die Habsburger siegreichen Eidgenossen. Die stummen Zeugen bilden den Hallraum einer Geschichte, die wir uns nur noch augenzwinkernd erzählen können.
PRODUKT. Ein ganzes Arsenal helvetischer Symbole ist da auf der Bühne von Jörg Zielinski versammelt, vom Sackmesser über die Toblerone-Schoggi bis zum Goldbarren. Auch das Tellendenkmal ist schon da und eine Inschrift, die auf Friedrich Schiller verweist. Seinen goldenen Schuss in den Apfel auf dem Kopf von Tochter Jenni gibt Wilhelm Tell aus einer roten Armbrust ab, die dem Symbol für «Made in Switzerland» nachgebildet ist. Das Symbol, das einer realen Waffe nachempfunden ist, verkehrt sich wieder zu einer solchen – ein dialektischer Trick, der die Inszenierung von der Verlegenheit erlöst, das längst Unglaubwürdige naiv zu behaupten.
Die Schweiz existiert hier nur noch als touristisches Produkt, und wenn die Habsburger mit Europasymbolen einmarschieren, macht sich Heiterkeit im Publikum breit. Europa als Gefahr für die Schweiz, wäre ja gelacht! Ebenso, wenn Rodolphe, der Anführer der Schützen Gesslers, als übereifriger Intellektueller mit lederner Aktentasche gezeichnet wird, der Gessler das Redemanuskript vor die Nase halten muss, damit dieser nicht aus der Rolle fällt.
Marthalers Ideenfluss versiegt bis zum Ende nicht, wodurch das über dreistündige Stück ein wenig von seinem schweren Pathos verliert. Den ungetrübten Premierenapplaus konnte er sich mit dem ganzen Team teilen, namentlich mit dem souverän gebietenden Dirigenten Gianluigi Gelmetti und den Sängern, allen voran Michele Pertusi als baritonal klar zeichnendem Bilderbuch-Tell, Eva Mei als von der Prinzessin zur Revolutionärin gewendeten, einnehmend singenden Mathilde und dem Tenor Antonio Siragusa als Arnold.