Freiheitskampf mit Armbrust und Arien

Anna Kardos, Tages-Anzeiger (15.11.2010)

Guillaume Tell, 13.11.2010, Zürich

Adrian Marthaler ist in seiner Inszenierung von «Guillaume Tell» im Zürcher Opernhaus krampfhaft um Ironie bemüht. Was nicht so recht zur ernst gemeinten Rossini-Oper passen will.

Am Schluss, da war man es: ein einig Volk von Brüdern und Schwestern. «Liberté!» tönte es einhellig aus Parkett und Loge, die Sänger hatten sich unters Publikum gemischt, und man sass mittendrin im Jubelklang des Finales aus Rossinis «Guillaume Tell». Es war einer der wenigen Momente an diesem Abend, wo Musik und Inszenierung eins waren. Und auch einer der wenigen, der ungebrochen stehen bleiben durfte. Denn bereits nach der Ouvertüre hatte Regisseur Adrian Marthaler sein Publikum gefragt: «Wollen wir sein ein einig Volk von Brüdern?» Und dieses Fragezeichen mitten im Rütlischwur bestimmte den Abend von den ersten Takten an bis ins Finale.

Angst vor Fettnäpfchen

Mag sein, dass es nahezu ein Ding der Unmöglichkeit ist, das helvetische Nationalepos im Jahr 2010 auf die Bühne zu bringen, ohne in mindestens ein pathostriefendes Fettnäpfchen zu treten. Marthaler jedoch scheint kaum etwas so sehr zu fürchten wie das. Wann immer möglich (und sogar wenn eigentlich unmöglich), greift er zur Ironie. So zeigte er die Schweizer als ein Volk von Bankern und «Bänklern» – Erstere sämtlich kränkelnd, Letztere auf roten Bänken herumsitzend und die guthelvetische Aussicht geniessend. Und der grosse Unterdrücker ist die EU. War es beim Apfelschuss die rote Spielzeugarmbrust, die jeglicher Dramatik den Boden unter den Füssen wegzog, so gafften beim Rütlischwur Passanten in Strassenkleidern, und ein Boulevardblattverkäufer bot das dramatische Geschehen bereits im Druck feil. Es war nicht zu übersehen: Die Regie war mit allen Mitteln bemüht, die originale Handlungsebene zu durchbrechen oder à la Brechts epischem Theater dem Publikum schlicht die Möglichkeit zu nehmen, sich mit irgendwem zu identifizieren.

Nur wurde man dabei das Gefühl nicht ganz los, dass besagtes Fragezeichen auch seitens der Inszenierung stehen blieb. So war es weniger ein elegantes Changieren als öfters ein Lavieren zwischen Ironie und Handfestigkeit, was auf der Bühne vor sich ging. Dem Regisseur (und Bruder von Christoph Marthaler), der jahrzehntelang gekonnt Klassik für das Schweizer Fernsehen adaptiert hatte, gelangen einzelne herausragende Szenen, etwa der Auftritt des Rad fahrenden Alt-Bundesrates und frischgebackenen «Bänklers» Moritz Leuenberger im ersten Akt (für den Rest der Vorstellung zog Leuenberger der Parkbank dann doch die Loge vor). Auf der Bühne des Opernhauses (Jörg Zielinski) vermögen sich die Szenen jedoch nicht zu einem ähnlich stringenten Gros zusammenzusetzen wie ehedem auf dem Bildschirm.

Vielleicht lag es schlicht an Rossini. Dem sonst so humorvollen Italiener war es mit seinem Guillaume Tell für einmal ernst. In dieser Oper ging er für die damalige Zeit so brisante Themen an wie nationale Identität und Volksrevolution. Das nationale Pathos mag seine Zeit nicht überdauert haben, Rossinis Musik jedoch wirkt noch immer wie ein Magnet: Sänger um Sänger durfte man dabei beobachten, wie sie mit der Ironie brachen und sich den Affekten hingaben, sobald es die Musik verlangte. Da hätte es auf der Bühne die Personifikation des Komponisten gar nicht gebraucht, vor der sich jeder Darsteller verneigte.

Im Gegenteil: Rossini selbst hätte vielleicht anerkennend genickt, hätte er das Ensemble des Opernhauses singen gehört. Der Komponist verlangt seinen Sängern nämlich in diesem für das opernverwöhnte Paris entstandenen Werk einiges ab. Beispielsweise hohe Töne. Berühmt-berüchtigt ist die Partie des jungen Arnold, die seinerzeit die Messlatte für tenorale Gipfelstürme ruckartig in die Höhe katapultierte (und damit gewisse Sänger in schiere Verzweiflung bis hin zum Selbstmord trieb). Nicht so Antonio Siragusa. Strahlend die Stimme und strahlendst die Höhen des Italieners. Pianopassagen und Zwischentöne waren seine Sache nicht. Vielmehr schoss er die Noten aus voller Brust, treffsicher, geradlinig und ähnlich effektvoll wie Tell seine Pfeile. Nur dass er damit statt des Apfels direkt das Herz der Habsburgerin Mathilde alias Eva Mei erreichte. Diese erwiderte seine Gefühle zwar mit weniger Stimmvolumen, aber dafür mit umso elaborierteren Phrasen. Sie habsburgische Prinzessin, er Schweizer Widerstandskämpfer – der Liebe dieser beiden ist keine rosige Zukunft beschieden. Und doch treibt sie auf emotionaler Ebene die Handlung voran, derweil Tells kühne Taten es auf der dramaturgischen tun. Hinreichend bekannt sind sie ja, diese Taten: Tell weigert sich, vor Gesslers Hut in die Knie zu gehen. Die Strafe des Landvogts ist grausam: Nur wenn Tell einen Apfel vom Kopf seines einzigen Kindes schiesst, kann er sein und das Leben des Kindes retten. Derweil regen sich die unterdrückten Schweizer schon zum Aufstand.

Wenig kämpferisches Volk

Michele Pertusi in der Titelrolle war die Bühnenaktion heroisch genug. Stimmlich gab er sich wenig kämpferisch und überzeugte vielmehr mit warmem, ausgeglichenem Bassbariton und weicher Attacke. Ähnlich abgerundet klangen auch Frau (Wiebke Lehmkuhl) und Kind. Martina Janková als Tells Kind war spieltechnisch ein Glücksfall, brachte sie mit klarem Sopran und Verschmitztheit willkommene Frische ins Ensemble. Einzig dem Volk, alias dem Chor des Opernhauses, nahm man den Willen zum Aufstand nicht so recht ab. Es richtete sich mit wohliger Harmonie, quasi geranienumflort im Istzustand ein. Dass es dabei des öfteren gar von der orchestralen Begleitung überholt wurde, schien den Chor genauso wenig aus der Ruhe wie auf die Barrikaden zu bringen.

Ebenso wenig mochte das Orchester der Oper einlenken. Dabei war es unter Gianluigi Gelmettis Leitung als Klangkörper durchaus kompakt und flitzte mit so meisterhaft flinken Fingern durch die Prestopassagen, wie es mit pastellfarbenem Wohlklang die französisch angehauchte Naturmalerei Rossinis füllte. Und Rossini verdankte man auch, dass man zuletzt die Oper mit wohligem Schmunzeln verliess. War man doch an einem Abend Zeuge gleich zweier Revolutionen geworden. Auf der Bühne jene der Schweizer gegen die Habsburger und daneben eine der musikalischen Affekte gegen die ihr aufoktroyierte Ironie.