Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (12.12.2010)
Eine Premiere der besonderen Umstände erlebte das Basler Theater mit Tschaikowskys Oper «Pique Dame» am Freitag. Dennoch gelang eine atmosphärisch dichte, musikalisch hoch stehende Aufführung.
Nichts ist, wie es scheint, und alles, was wir sehen, steht auf wackligen Füssen. Nicht nur Lisas Haus, das auf zerbrechlichen hölzernen Stelzen gebaut ist, auch die Figuren sind mehr Schemen und Gespenster als Menschen aus Fleisch und Blut. Immer wieder öffnen sich ungeahnte Räume, zeigen Erinnerungen, Träume oder Visionen. Figuren tauchen auf in Szenen, in denen sie eigentlich nichts verloren haben, verwischen ihre Konturen, verschmelzen miteinander wie Lisa und die alte Gräfin, die sich unversehens beide im Bett mit Hermann finden, ohne dass diese Szene komisch wird: Es ist höhere Regie-Meisterschaft, die David Hermann hier beweist.
Dunkel ists in diesem unheimlichen St. Petersburg, bedrohlich ziehen die Wolken über den Videohimmel, Nebel verhüllen verfallende Gemäuer. Manches, was klar scheint, erhält im nächsten Moment eine geisterhafte Irrealität. Der Regisseur und sein Ausstatter Christof Hetzer haben alles Unheimliche, Unwirkliche, Surreale von Pjotr Tschaikowskys Oper «Pique Dame», die auf eine durchaus logisch stringent erzählte Puschkin-Novelle zurückgeht, auf die Bühne des Theaters Basel gestellt. Magie und Übersinnliches, Beschwörungen und kryptische Rituale prägen diese Gesellschaft.
Kein blosses Nacherzählen
Die pittoresken Kinderchor-Szenen des Anfangs hat Hermann gestrichen und steigt gleich mit seinem tragischen Helden und seinen Soldaten-kollegen in die Geschichte. Tomsky wird zu einer Art Zeremonienmeister, der mit Zaubertricks die Sinne vernebelt und Visionen erzeugt. Wenn sie eines nicht tut, diese Inszenierung, dann die Geschichte nacherzählen. Dafür findet sie suggestive, atmosphärisch dichte Bilder für eine zutiefst romantische Gefühlswelt, in der Übersinnliches und Schicksalshaftes ganz selbstverständlich zum Leben, Lieben und Sterben gehören.
Mit all diesen verwirrenden, surrealen Momenten, diesen verwischten Personenkonstellationen spielte es am vergangenen Freitag kaum mehr eine Rolle, dass auch die Figur des Protagonisten Hermann gesplittet werden musste. Der junge russische Tenor Maxim Aksenow erwischte am Premierentag eine schlimme Erkältung, versuchte noch, die Partie zu singen, musste dieses Unterfangen aber nach dem ersten Bild aufgeben: Zu wenig war seine angeschlagene Stimme in der Lage, der Partie gerecht zu werden, und das war eigentlich schon von der ersten Phrase an klar. Sein Ersatz, der in dieser Rolle sehr erfahrene ukrainische Tenor Vladimir Kuzmenko, reiste von Stuttgart mit der Bahn an, hatte aber eine Stunde Verspätung, womit das Premierenpublikum eine zusätzliche Pause in Kauf nehmen musste, was es dank Gratis-Getränken mit guter Laune hinter sich brachte.
So spielte also Aksenow die Partie auf der Bühne, Kuzmenko sang vom Rand aus, beide legten sehr viel Intensität und Energie in die Figur. Packende Rollenporträts gelangen auch Nikolay Borchev als Jeletzky, der die schönste Arie der Oper mit viel Leidenschaft sang, und Eung Kwang Lee als Tomsky. Vergleichsweise etwas blasser blieb Svetlana Ignatovich, die ihrer Lisa zwar ätherisch schöne Momente schenkte, die Verzweiflung und die Abgründe ihres Wechselbads der Gefühle doch etwas extrovertierter hätte zeigen dürfen. Valentina Kutzarova als Pauline und Hanna Schwarz als Gräfin trafen die charakteristischen Farben ihrer Partien tadellos.
Wach und klanglich differenziert
Gabriel Feltz an der Spitze des Sinfonieorchesters Basel liess sich von den Turbulenzen der Premiere und den besonderen Umständen kein bisschen aus der Ruhe bringen. Sein Tschaikowsky war immer wach und klanglich differenziert, stets vermied er die allzu süsse Orchestersauce, zu der Tschaikowsky nur allzu schnell verführen kann, ohne jedoch die romantischen Emotionen der Partitur zu verschenken.