Mehr live geht nicht

Sigfried Schibli, Basler Zeitung (13.12.2010)

Pique Dame, 10.12.2010, Basel

Tschaikowskis «Pique Dame» – eine Opernpremiere mit Überraschungen

Nie ist Theater spannender als bei einer plötzlichen Umbesetzung. Wie der ukrainische Tenor Vladimir Kuzmenko die Basler Premiere von Peter Tschaikowskis «Pique Dame» rettete.

Als die Aufführung um 20 Uhr anfing, kämpfte der Heldentenor, vollgepumpt mit Medikamenten, noch mit seiner am Nachmittag aufgetretenen Erkältung, während der Retter im Zug der Destination Basel entgegentuckerte. Die erste Szene der Oper «Pique Dame» ging noch mit dem für die Partie des Spielers Hermann vorgesehenen jungen Tenor Maxim Aksenov über die Bühne.

Mehr schlecht als recht – seine Stimme war so angeschlagen, dass man um den Fortgang der Oper bangen musste: Kratzgeräusche statt Belcanto-Schmelz. Da trat Operndirektor Dietmar Schwarz auf die Bühne und kündigte an, dass der Ersatztenor Vladimir Kuzmenko im Anmarsch sei. Zwangspause mit Gratis-Cüpli für alle.

ABSURD. Die zweite Szene war dann von einer Spannung erfüllt, wie sie kein Kinofilm bieten kann. Am linken Bühnenrand stand ein Lesepult, an dem sich Vladimir Kuzmenko installierte. Derweil sangen auf der Bühne Lisa und Pauline ihre traurigen russischen Lieder von verflossener Liebe, bis der Liebhaber Hermann – ein Verrückter, heisst es im Text – hinzutrat, stumm gespielt von Maxim Aksenov. Nie ist Oper mehr Oper als in dieser Absurdität, der Erfüllung einer unmöglichen und unmöglich schönen Gattung, in der Menschen ihre Gefühle in Gesang transformieren wie nie im wirklichen Leben.

Vladimir Kuzmenko, ein altersloser, aber opernerfahrener Herr mit Bäuchlein, sang sich mehr als achtbar durch die grosse Tenorpartie des Hermann. Stets am Puls der Emotionen, manchmal zu laut für das doch nicht so riesige Basler Theater, aber präzis und textsicher. Erstaunlich, was sich alles ohne eine einzige Probe bewerkstelligen lässt. Ein Riesenapplaus für seine Heldentat war ihm gewiss.

ERFÜLLT. Das Leitungsteam hatte eine «Basler Fassung» erarbeitet, und das heisst zunächst: Kürzungen beim gegen dreistündigen Original. Die zauberhafte erste Chorszene fällt weg, das Stück beginnt gleich mit der ersten Spielerszene. Den von Henryk Polus einstudierten Chören bleiben die späteren Gelegenheiten, ihr herausragendes Können und ihre Spielfähigkeit zu zeigen. Ebenso entfällt das Schäferspiel mit Ballett im zweiten Akt, in dem der Erzkenner und -könner Tschaikowski ein bisschen Rokoko spielt.

Lang ist der Abend gleichwohl noch, aber auch erfüllt. Der Regisseur David Hermann und der Dirigent Gabriel Feltz am Pult des Sinfonieorchesters Basel servieren uns einen Opernabend, der die seltene Qualität hat, zugleich modern und atmosphärisch stimmig zu sein.

DUNKEL. Das beginnt rätselhaft. Eine Dachstube mit den verarmten Spielern, die sich auch physikalischen Experimenten widmen. Sind wir da in die «Bohème» geraten, die derselbe Regisseur am selben Theater vor zwei Jahren so eiskalt bebilderte? Die Bühne (virtuos: Christof Hetzer) ist aufgeteilt in mehrere Zimmer. Vorzüglich schon in den ersten Takten: der kräftige Bariton von Eung Kwang Lee als Graf Tomski, nicht einzuordnen dagegen der uniformierte Chor der Eierköpfe, eingepfercht in einen klinisch weissen Raum. Wieder einmal die bei heutigen Regisseuren so beliebte Psychiatrienummer?

In der zweiten Szene singt Pauline (stimmschön: Valentina Kutzarova) im hellen Raum links unten einsam vor sich hin, einsam sogar im Duett mit Lisa, der Braut des Fürsten Jelezki (mit aller baritonalen Kraft und Noblesse: Nikolay Borchev). Lisa wird von Svetlana Ignatovich mit stimmlicher Präsenz sondergleichen und schauspielerisch höchst agil verkörpert. Erfreulich, wie die am Theater Basel gross gewordene Nachwuchssängerin des Jahres sich freigesungen und -gespielt hat.

Lisa steht der Gräfin (Hanna Schwarz mit ungebrochenem Mezzo) näher als in sonstigen Aufführungen dieser Oper, ist ihre liebende Enkelin und Bettgespielin. Der Gräfin fehlt das Abschreckende einer alten Hexe, das ist eine Frau in den besten Jahren. In der zweiten Szene des zweiten Akts wird sie sich dem Eindringling Hermann zärtlich anschmiegen – ein erotisch angehauchtes Dreieck im Hochsitz-Zimmer der Gräfin. Da diese daher nicht wie im Originaltext beim Anblick Hermanns, den sie ja bereits umarmt hat, vor Schreck sterben kann, biegt die Regie die Handlung zurecht: Hermann erwürgt die Frau, die ihm das Geheimnis der drei Spielkarten vorenthält.

In der Dachgartenszene mit halben Selbstmordambitionen Hermanns wirkt die Inszenierung noch unentschieden. Mit dem Schritt zum Ein-Zimmer-Bühnenbild wird sie atmosphärisch dichter. Bis hin zum packenden Schluss mit der letzten Spielerszene, in der ein vollkommen übermütiger Hermann alles riskiert und alles verliert.

Gespenstisch. Da stehen im Obstgarten der Gräfin unterm Tarkowski-Himmel drei Spielautomaten, die blinken und blitzen, ein Feuer lodert, die Messer zum Zweikampf mit dem Fürsten Jelezki werden gewetzt – eine gespenstische Kulisse für das tragische Ende einer von russischer Schwermut geprägten Oper.

Das Sinfonieorchester Basel spielte in der Premiere klangschön und besonders in den vielen Holzbläsersoli – herausragend die meckernden Fagotte als Leitmotive der Gräfin – brillant, und Kapellmeister Gabriel Feltz hatte die Koordination zwischen Graben und Bühne jederzeit sicher im Griff. Das Premierenpublikum liess sich durch einige ungewohnte Regieeinfälle nicht beirren: heftige Reaktionen mit vielen Bravi und rhythmischem Applaus.