Seelendrama statt Grand Opéra

Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (14.12.2010)

Pique Dame, 10.12.2010, Basel

«Pique Dame» von Peter Tschaikowsky am Theater Basel

Die Musik ist einfach herrlich, und herrlich wird sie zum Klingen gebracht – dies vorweg. Mit Händen greifen lässt sich an diesem fiebrigen Abend im Basler Stadttheater, dass Peter Tschaikowsky seine Oper «Pique Dame» in einem Schaffensrausch sondergleichen niedergeschrieben und dass er nicht nur zu den allerschönsten Erfindungen, sondern auch zu hinreissender Verdichtung gefunden hat. Angeführt von Gabriel Feltz, lassen das ein Ensemble von bemerkenswerter Qualität und das warm klingende Sinfonieorchester Basel hören – wobei sich der mit Jubel aufgenommene Premiereabend von den Überraschungen des Beginns bis zum Ende hin fulminant steigerte.

Adventskalender

Die Überraschung bestand zunächst darin, dass «Pique Dame» in dieser Basler Aufführung nicht mit jenem pittoresken Kinderchor beginnt, den Tschaikowsky in Erinnerung an die für ihn wichtige Begegnung mit Bizets «Carmen» an den Anfang des Stückes gestellt hat. Sie kommt vielmehr direkt zur Sache und stellt den durch seine Spielsucht zerrütteten Hermann und seine Freunde vor, unter denen Eung Kwang Lee mit seinem grossartig sonoren Bariton hervorsticht. Überhaupt verzichtet die Produktion auf jegliche Auskleidung, lässt sie all das beiseite, was «Pique Dame» zu der Grand Opéra macht, als die sie eigentlich gedacht ist. Der Ball, an dessen Höhepunkt die Zarin selbst erscheint (danach ist die Pause vorgesehen), findet in Basel hinter verschlossener Tür statt, das Rokoko-Schäferspiel ist gestrichen.

Man könnte das bedauern, wären die Eingriffe, die der Regisseur David Hermann vornimmt, nicht so klar als Folge eines streng durchgeführten interpretatorischen Ansatzes erkennbar. Der junge Regisseur lässt den spektakulären Hintergrund, vor dem sich die Schicksale der Protagonisten entfalten, vollkommen aus, er richtet seinen Blick vielmehr ganz und gar auf die handelnden Figuren. Wie mit einem Fernglas holt er sie heran, um sie in ihren zum Teil ausgesprochen seltsamen Eigenheiten vorzuführen und sie als Teil eines Gewebes zu zeigen, in dem der eine von der anderen abhängt. Und diese Abhängigkeiten sind massiv. Lisa – Svetlana Ignatovich geht ihre Partie vokal vielfältig und darstellerisch höchst präsent an – ist nicht die nette Enkelin, die neben einer etwas eigenen Grossmutter wohnt, sie teilt Zimmer und Bett mit der Gräfin, die in der Person der grossen Hanna Schwarz alles andere als alt, nämlich überaus attraktiv wirkt. Kein Wunder, fühlt sich der Titelheld von dieser Frau (und ihrem Geheimnis um die drei immer gewinnenden Spielkarten) angezogen; und nur konsequent, muss er sie, da sie nicht einfach vor Schreck sterben kann, eigenhändig erwürgen.

Natürlich gibt es auch Einfälle, die vielleicht nicht sein müssten. Der Chor – von Henryk Polus vorbereitet, in den Frauenstimmen stark vibrierend, bei den Männern aber ausnehmend klangvoll – besingt den warmen Frühling am Anfang in weissen Gewändern und ebensolchen Masken, eingezwängt in eine Art Dusche, die in dem Moment, da das Gewitter ausbricht, tatsächlich zu sprühen beginnt. Und auch die Anordnung der Spielorte in der Ausstattung von Christof Hetzer, die wie die Fensterchen im Adventskalender auf die schwarze Fläche der Bühne verteilt sind, braucht Gewöhnung.

Je länger das Spiel voranschreitet und je mehr man sich in die nicht nur aktiv deutende, sondern auch handwerklich erstklassig durchgeführte Inszenierung hineinlebt, desto plausibler erscheinen jedoch die Dispositionen. Gegen Schluss, wenn sich Lisa in der Sackgasse sieht und nur noch ins Wasser der Newa gehen kann, nimmt die Spannung zwischen der Weite des Raums und der Enge der Situation beklemmende Wirkung an. Denkbar weit entfernt ist man da von jenem traumverlorenen Duett mit Klavierbegleitung, das Lisa und ihre Freundin Pauline (Valentine Kutzarova) zu Beginn der zweiten Szene gesungen haben.

Glück im Unglück

Am Ende sind alle beschädigt, auch der Fürst Jeletzky (Nikolay Borchev), der mit seinem vielen Geld für den schwankenden Hermann die ideale Projektionsfläche abgibt. Nur einer steht strahlend da – womit wir bei einer weiteren Überraschung dieses irgendwie denkwürdigen Premierenabends wären. Schon in den ersten Minuten war zu hören, dass Maxim Aksenov, der junge Darsteller des Hermann, nicht weit kommen würde, zu sehr hatte sich Heiserkeit auf seine Stimmbänder gelegt – der Basler Operndirektor Dietmar Schwarz hatte schon vorab um Verständnis gebeten. Nicht ahnen konnte man, dass der Ersatz als Fahrgast der Deutschen Bahn, also verspätet unterwegs war. Nach einer eingeschobenen Pause mit Gratisgetränk stellte er sich seitlich ans Notenpult und legte los: aus dem Stand und schlechthin umwerfend. Vladimir Kuzmenko heisst der Mann dieser Stunde. Mit seinem mühelos kraftvollen Tenor hat er den Abend gerettet. Und gezeigt, was das sein kann: darstellende Kunst.