Der inszenierte Traum

Anna Kardos, Tages-Anzeiger (14.12.2010)

Pique Dame, 10.12.2010, Basel

Das Theater Basel zeigt Tschaikowskys Oper «Pique Dame» – mit schwarzer Bühne und schillernder Musik.

Als hätte man sich in das Zwischenreich der Träume verirrt: Die Guckkastenbühne öffnet sich, und zur Faktur von Tschaikowskys «Pique Dame» schreiten die Protagonisten die Sequenzen eines bizarren Reigens ab. Den Ton dabei gibt die Tiefenpsychologie an, die Schrittfolgen die Unlogik wirrer Träume. Der eigene Wille, Liebe, Freundschaft – an diesem Ort gelten sie nichts. Was hier regiert, ist die Alchimie der Besessenheit, der Magnetismus der Triebe.

Dabei würde die Oper Peter Iljitsch Tschaikowskys mit einer bilderbuchartigen Liebesschwärmerei beginnen. Es ist die Geschichte Hermanns, des armen Offiziers, der für die adelige Lisa entflammt. Hermann glaubt die Angebetete nur zu gewinnen, wenn es ihm gelänge, plötzlich Geld aufzutreiben. Denn da ist auch noch ein reicher Nebenbuhler. Das Gerücht um Lisas Grossmutter (Hanna Schwarz), die ein Geheimnis um drei gewinnbringende Spielkarten hüten soll, ist Hermanns grosse Hoffnung. Doch was als Geldsuche für ein Liebesglück beginnt, wächst sich im Laufe des Abends zu einer veritablen Manie aus.

Ganz ähnlich erging es Tschaikowsky, der bei der Komposition seiner «Pique Dame» selbst in einen wahren Schaffensrausch geriet (vielleicht begegnen einem deshalb in der Ouvertüre Fetzen seiner fünften Sinfonie?). Gleichsam trunken von ihrem Schicksal tauchte er ab in die Welt seiner Figuren. Wie sehr, wird klar in einem Tagebucheintrag, als er am Tod des Protagonisten arbeitete: «Schrecklich geweint, als Hermann seinen Geist aufgab.»

Die so entstandene Musik vereint Hochdramatisches und selige Melodien: Ein willkommenes Betätigungsfeld für das Sinfonieorchester Basel, das sich unter der Leitung von Gabriel Feltz allerdings nicht so sehr bei der Feinziselierung aufhält. Lieber türmen die Musiker Arpeggien spitz in die Höhe, gleiten auf sanften Melodien dahin oder bereiten mit dunklen Basspizzicati der Dramatik einen brodelnden Untergrund.

Die Musik wie auch die Stimmen der Sänger bleiben dabei klingende Reminiszenz an das vom Komponisten intendierte Seelendrama. Voll edler Kraft schillert der Tenor Aleksandrs Antonenkos, der kurzfristig für den an der Premiere erkrankten Maxim Aksenov eingesprungen ist. Und mit Svetlana Ignatovich als seine angebetete Lisa hat Antonenko auch stimmlich ein passendes Gegenüber gefunden. Die junge, aufstrebende Sängerin verfügt über eine ähnlich hervorragende Technik und Farbgebung bei der musikalischen Gestaltung ihrer Rolle. In der dynamisch vielfältig abgetönten Partie beider wird etwas von jener seelischen Zerreissprobe deutlich, deren Spuren das traumsequenzartige Bühnengeschehen von Regisseur David Hermann getilgt hatte.

Wo die Sonne niemals scheint

Denn dieses gemahnt weit mehr an ein bizarres Nachtstück in der Manier E. T. A. Hoffmanns. Schwarz ist die phänomenale Bühne von Christof Hetzer, die Akt für Akt mehr offenbart von der Zerbrochenheit und Leblosigkeit der Tatsachen. Kinderchor und Sonnenschein bleiben aus, und das wenige tatsächlich existierende Licht erscheint umso bedrohlicher, da es doch nur das kühle Neon der Irrenhäuser, das maschinelle Flackern der Spielautomaten oder die rote Lampe verkaufter Liebeshoffnungen ist.

Umnachtet scheinen zumeist auch die Protagonisten, die ein dichtes Geflecht tiefenpsychologischer Fäden ziehen – und in ihnen hängen bleiben wie in den Fängen eines Albtraums. Alle, bis auf einen: Mit der Nonchalance eines vollendeten Bösewichts spaziert Graf Tomskij über die Bühne – genauso vollendet ist auch der Bass seines Darstellers Eung Kwang Lee – und man wartet Minute um Minute darauf, ihm einen Pferdefuss wachsen zu sehen (was freilich aber nie eintritt).

Zum Schluss sind Lisa, Hermann und die Grossmutter tot. Wer wen wie um sein Leben gebracht hat, bleibt das Geheimnis dieses inszenierten Traums, der einem die psychologischen Scherben der Figuren kaleidoskopartig im Kopf herumgewirbelt hatte.