Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (25.01.2011)
«Le Comte Ory» von Gioachino Rossini im Zürcher Opernhaus
Die Handlung ist schnell erzählt: Der Graf Ory, ein notorischer Don Juan, hat es auf die Gräfin Adèle abgesehen. Doch weil sie und ihre Damen ein Keuschheitsgelübde abgelegt haben und jedem männlichen Wesen den Zutritt zum Schloss verwehren, solange der Schlossherr und seine Ritter Kriegsdienst leisten, erfordert die Eroberung List und Verstellung. Zunächst versucht es Ory als Eremit, dann, nachdem er von seinem Erzieher entdeckt und demaskiert worden ist, nimmt er im Gewand einer Nonne auf Pilgerreise einen zweiten Anlauf und dringt zusammen mit seinen gleichfalls verkleideten Gefährten tatsächlich ins Gemach der Angebeteten vor. Aber auch hier kommt er nicht ans Ziel, statt der Gräfin umarmt er seinen als Gräfin verkleideten Pagen und Rivalen Isolier, und sein Abgang bei der plötzlichen Rückkehr der Krieger ist schmählich.
Dass hier eigentlich zweimal die gleiche Geschichte erzählt wird, tut dem Rang des für die Pariser Opéra geschriebenen Werkes keinen Abbruch, im Gegenteil, gerade in der Kunst der Variierung und Verwandlung zeigt sich Gioachino Rossinis Meisterschaft. Alles in «Le Comte Ory» ist Maskerade, Spiel mit wechselnden Identitäten, selbst die Musik, die der Komponist zu grossen Teilen seinem «Viaggio a Reims» entnommen und auf andere Figuren und Situationen übertragen hat.
Die Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier versucht dem turbulent-phantastischen Geschehen allerdings etwas Bodenhaftung zu geben, indem sie die Handlung aus dem Mittelalter in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts verlegt und aus den Kreuzfahrern Algerien-Krieger macht. Sittenstrenge und Prüderie geben den Ton an, doch die sexuelle Befreiung liegt schon in der Luft. Nach der merkwürdig spröden Ouvertüre läuft die Aufführung eher zähflüssig an. Das Provinzstädtchen, das Christian Fenouillat entworfen hat, wirkt zwar unverkennbar französisch, aber auch etwas putzig und überdimensioniert, zumal wenn sich die von Agostino Cavalca sehr bunt kostümierten Frauen vor der Klause des Eremiten drängen. Sie besteht aus einem Campingwagen und ist so gross, dass Ory gleich alle zusammen darin empfangen kann. Wie sie dann nach erfolgter Konsultation ziemlich derangiert, doch selig lächelnd wieder hervorkommen, ist amüsant gemacht und zeigt den Damenchor (Choreinstudierung Jürg Hämmerli) in glänzender Sing- und Spiellaune.
Richtig in Fahrt kommt die Aufführung aber erst mit dem Erscheinen der Gräfin alias Cecilia Bartoli. Nicht weil sie der Star ist, sondern weil sie so anders wirkt: eine nicht mehr ganz junge Dame im biederen schwarzen Kostüm mit Brille und strenger hochgesteckter Frisur. Man muss zweimal schauen, ob das wirklich die quirlige Diva ist, hören jedoch nur einmal: Solch rasant schnelle Koloraturen in unendlichen Variationen, das kann nur sie. Und nachdem im Campingwagen ein mobiles Bordell zum Vorschein gekommen ist, darf sie bald auch ihrem darstellerischen Temperament freien Lauf lassen. Die Hauptrolle gehört indessen dem Tenor, Javier Camarena. Auch er braucht ein wenig Zeit, um stimmlich in Hochform zu kommen, doch dann trumpft er nicht nur mit berückendem Timbre und weichem Schmelz, sondern auch mit hohen C auf, die nie aufgesetzt wirken, sondern organisch dem melodischen Fluss entströmen, ohne Krampf, aus purer Lust, fast übermütig hingezaubert. Und genauso wirkt auch Camarenas Spiel. Ob im Eremiten- oder im Nonnengewand: Seine Komik ist unwiderstehlich.
Für den zweiten Akt verwandelt sich die Szene in einen grossen, spiessig eingerichteten Salon. Die Damen, in Erwartung der heimkehrenden Männer mit Lockenwicklern im Haar, vertreiben sich die Zeit mit Journalen und Handarbeiten – brillant, wie Liliana Nikiteanu als gouvernantenhafte Ragonde das Einfädeln einer Nadel zum spannenden Kabinettstückchen macht. Dann ist es an den männlichen Chormitgliedern, die Maskerade als zunächst züchtige, bald aber betrunkene Nonnen auf die Spitze zu treiben. Schade, dass die grandiose Erzählung von der Eroberung des gräflichen Weinkellers bei Oliver Widmer (Rimbaud) so saftlos daherkommt. Dafür entfaltet dann das Terzett «A la faveur de cette nuit obscure» all seinen Witz, nicht zuletzt, weil ihm Rebeca Olvera in der Hosenrolle des Isolier mit ihrem perlenden Sopran ein paar Glanzlichter aufsetzt.
Im musikalischen Teil gibt sich die Aufführung geschichtsbewusst. Erstmals wird «Le Comte Ory» hier nach der Kritischen Neuedition des Bärenreiter-Verlags gespielt, welcher das originale Material der Uraufführung zugrunde liegt. Und das von Muhai Tang präzis und straff geleitete Orchester La Scintilla sorgt mit seinen historischen Instrumenten für eine stilgerechte Wiedergabe. Vom warmen, transparenten Klang profitiert nicht nur Cecilia Bartoli, deren Stimme in den Sopranregionen sehr leicht ist, der Abend insgesamt steht im Zeichen einer konsequenten Piano-Kultur. Laut wird es erst beim Schlussapplaus.