Wo der Hahn noch kräht

Herbert Büttiker, Der Landbote (25.01.2011)

Le Comte Ory, 23.01.2011, Zürich

Nach dem «Tell» hat das Opernhaus jetzt auch das zweitletzte Werk des Frührentners Gioacchino Rossini neu inszeniert: ein witziger, musikalisch sprühender Abend mit «Comte Ory».

Da schleichen sich Männer in Nonnenkleidern ins Haus der grünen Witwen, bedienen sich im Weinkeller des abwesenden Schlossherrn, veranstalten ein wüstes Gelage und singen fromme Lieder, sobald eine der Damen auftaucht. Man weiss nicht, was unverschämter ist: die Persiflage der Bigotterie, die Satire auf das Bollwerk weiblicher Tugend oder die jämmerliche Figur, die Männer auf dem Pfad der Untugend machen. Die Schwerenöter jedenfalls müssen unverrichteter Dinge in weiblicher Nachtwäsche durch das Kellergewölbe abziehen, weil die Kriegergatten heimkehren.

Der Jubelchor feiert am Ende die Rückkehr zu ehelichen Freuden, aber auch ihm ist nicht zu trauen: Rossinis Musik, die auch im Derb-Komischen mit dem Silberstift gearbeitet ist, ist doppelbödig: Wie viel Sehnsucht und Seelenwärme strahlt da nicht im berühmten, an Mozart erinnernden Terzett im zweiten Akt in nobelster Kantabilität, und dies zur erotisch verquersten Situation: Comte Ory, der Tenor im Frauennachthemd, sucht die Nähe der Comtesse, gerät aber an Isolier, seinen Pagen, der mit ihr die Kleider getauscht hat, um sie zu schützen und ihr gleichzeitig selber an die Wäsche zu gehen.

Javier Camarenas Abend

Ein Glanzpunkt war diese Szene auch an der Zürcher Premiere. Das «Orchestra la Scintilla», das funkensprühend seinen Namen alle Ehre machte, zeigte hier subtile Klangarbeit. Muhai Tang am Pult erwies sich als gewiefter Rossinianer, der mit klarer Disposition für grosszügigen Entfaltungsraum, gegebenenfalls aber auch temporeiche Engführung sorgte, beschwor hellhörig die nächtliche, erotisch aufgeladene Atmosphäre. Javier Camarena, der als Comte Ory in den zwei Akten alle Facetten eines komödiantischen Talents und Kantilenenzaubers reichlich ausspielen konnte, vervollständigte hier mit süssem Piano seine tenorale Palette. Deren Qualiät besteht darin, dass sie bei aller Nuancierung aus einem Guss ist. Das lässt sich von Cecilia Bartolis Beitrag kaum sagen, die ihre Stimmkünste wie unvermittelte Register zieht und ihr Timbre in Farben unterschiedlicher Güte auseinandersplittern lässt. «Comte Ory» ist für sie nach dem ersten Arienauftritt, in dem sie sich mit ulkigem Gouvernantencharme präsentiert, eine Ensembleoper, in der kein Raum für weitläufige Extravaganzen ist, aber glitzernde Perlen schön zur Geltung kommen.

Andere haben durchaus ihren Showtermin. Oliver Widmer lässt sich in seiner Arie zu einem Silben-pro-Sekunde-Rekord anstacheln. Carlos Chausson hat als Gouverneur eine weitere Partie im Repertoire, in der er grossartig grandeln kann, Liliane Nikiteanu mit Ragonde eine im Sortiment skurriler Altjüngferlichkeit.

Als Dritter im zentralen Dreieck, Isolier, Page und Rivale des Grafen, macht mit jungem griffigem Sopran Rebecca Olvera gute Figur. Er ist es, der am Ende mit dem Schneid und der Lässigkeit eines Offiziers die Comtesse von ihrem Schwur ewiger Witwenschaft abbringt. Im Jeep war er im ersten Akt ins postkartenschöne Bühnenbild gefahren, einer französischen Stadt im Morgenlicht, in der noch der gallische Hahn sein «cocorico» ruft.

Das Inszenierungsteam mit Moshe Leiser, Patrice Caurier, Christian Fenouillat (Bühne) und Agostino Cavalca (Kostüme) hat die mittelalterliche Geschichte ins Frankreich der Sechzigerjahre verlegt, die Männer sind nicht auf dem Kreuzzug, sondern im Algerienkrieg. Die verlassenen Frauen suchen derweil Rat und Trost beim weisen Pater, der niemand anderer ist als der donjuaneske Comte Ory. Szenenapplaus gab es, als der Blick in seinen Wohnwagen frei wurde, in dem er die Damen zu kurieren pflegt.

Nostalgischer Zauber

Ob in diesem als Lüstling getarnten Guru der 68er-Geist der sexuellen Befreiung spürbar wird, wie Leiser es sich zurechtlegte, mag man bezweifeln. Eher geht es um den nostalgischen Zauber einer überaus schön gestalteten und witzig gespielten Dorfposse, an welcher der Chor grossen Anteil hat und auch der Deux Chevaux, in welchem Cecilia Bartoli angefahren kommt.

Zur Freilichtszenerie, in der die Trikolore allgegenwärtig weht, kontrastiert das Interieur in der Hochburg der Tugend. Der Inszenierung gelingt hier das Kunststück, mit vielen Details und Überraschungen – ein kolossales Rossini-Gewitter etwa gibt den Anlass dazu – das Schauvergnügen des ersten Aktes noch zu überbieten. Im Verein mit dem dramaturgischen und musikalischen Höhenflug, der dieser zweite Akt ja auch vom Stück her ist, gibt es grosse Bühnenkunst zu erleben.

Dabei wird deutlich, dass Rossini in vollendeter Bravour schon bei Verdis altersweisem «Tutto il mondo e burla» angelangt war, wobei burla nicht nur Spass, sondern Aberwitz bedeutet und eine Liebeserklärung an die Welt meint. Worauf es dann weiter nichts mehr zu sagen gab. Rossini war aber erst 36. Als «Guillaume Tell», mit dem er sich gleichzeitig beschäftigte, ein Jahr später uraufgeführt war, quittierte er den Theaterdienst.