Prüde Damen im Rotlicht

Verena Naegele, Basler Zeitung (25.01.2011)

Le Comte Ory, 23.01.2011, Zürich

Rossinis «Comte Ory» stiftet erotische Verwirrung am Opernhaus Zürich

Eine witzige Inszenierung und die lustvoll agierenden Javier Camarena und Cecilia Bartoli prägen «Le Comte Ory» in Zürich.

Was für ein Klamauk: 14 frauenhungrige Männer mit dem liebestollen Comte Ory an der Spitze schleusen sich in Nonnenkleidern ins Schloss der tugendhaften Gräfin Formoutier und ihrer keuschen Entourage ein, um eben diese zu knacken. Maskerade und erotisches Verwirrspiel beherrschen Rossinis Oper und gipfeln in einem Terzett, in dem der als Nonne verkleidete Tenor zu einer Sopran-Frau zärtlich zu sein glaubt, während er in Wirklichkeit mit einem anderen Sopran in der Rolle eines Mannes turtelt.

Eine unsagbar komplizierte und fragwürdige Angelegenheit bei höchster Absturzgefahr, dieser «Le Comte Ory». Das Regieduo Moshe Leiser und Patrice Caurier setzt der überzogenen Komik allerdings eine Ernsthaftigkeit in der Umsetzung entgegen, die dem Werk einen unglaublichen Liebreiz entlockt. Massgeblich zum Gelingen tragen die Protagonisten bei, allen voran der hoch agile Javier Camarena als Ory. Statt im 13. Jahrhundert wie in der Vorlage, befinden wir uns um das Jahr 1960 in einem französischen Städtchen mit bieder verkorksten Einwohnern. Die hohen Herren sind im Algerienkrieg. Vor den Toren hat sich Comte Ory in einem Wohnwagen, getarnt als Eremit und Wunderheiler, niedergelassen und versucht so sein Frauenglück.

tigersofa. Mit Genauigkeit und inhärentem Witz mischen Christian Fenouillat (Bühne) und Agostino Cavalca (Kostüme) die Szene auf: Die Comtesse erscheint im blau glänzenden «Döschwoo», und wenn sich der Wohnwagen für ihre Begegnung mit dem Eremiten öffnet, wird der Blick frei auf ein Rotlichtinterieur mit Tigersofa und Klimbim.

Derweil tragen die biederen Damen des Hauses am Abend Lockenwickler, und die dickliche Zofe Ragonde (Liliana Nikiteanu) trampelt unbeholfen durch die Szene. Dass es in dieser vor Doppelbödigkeit strotzenden Welt Spass macht zu agieren, versteht sich. Da ist Cecilia Bartoli als Comtesse Adèle im züchtigen Kostüm, die ihren mimischen Tick wunderbar auf ihre meisterhaften Koloraturen überträgt, um anschliessend in wilder Freude ihre Entblössung zur erotisch bedürftigen Frau mit tiefem Dekolletee zu vollziehen.

Dem Inszenierungsteam gelingen witzige Charakterstudien und liebevolle Entlarvungen. So verschwinden die prüden Damen gleich zu vierzehnt im Wohnwagen des Pseudoeremiten.

weingelage. Und der Erzieher von Ory, der im ersten Akt hoch dekoriert in einem Militärjeep anbraust und gestreng seine mit hohen und tiefen Fs gespickte Arie singt, hält im zweiten Akt mit Lust als Pseudononne sein Weingelage ab (wunderbar: Carlos Chausson). Die stimmlich leichtgewichtige Rebeca Olvera als Isolier steht ihm in nichts nach.

Die musikalische Umsetzung kann freilich nicht ganz mit dem hohen Niveau der Regie mithalten. Muhai Tang dirigiert zum ersten Mal am Opernhaus, er meisselt Staccati wie Lyrismen gerade und trocken aus dem auf alten Instrumenten spielenden Orchester La Scintilla heraus. Das ergibt zwar ein farbenreiches Klangbild, aber er lässt den Sängern zu wenig Raum für Ausgestaltung.

oktavsprünge. Gerade hier fehlte der besondere Schmelz der französischen Musik, und die Abstimmung zwischen Bühne und (hochgefahrenem) Orchestergraben wollte oft nicht stimmen. So blieb Oliver Widmer als Rimbaud ungewohnt blass.

Eine Klasse für sich war Javier Camarena, ein Tenore di Grazia exklusivster Prägung mit urkomischem Talent, hellem Stimmtimbre, unglaublicher Farbvielfalt, virtuos vorgetragenen Oktav- und Sextsprüngen und lupenreinen hohen Cs. Mit seinen Eskapaden steht (oder fällt) Rossinis Oper.