Verspieltes Leben

Bettina Kugler, St. Galler Tagblatt (31.01.2011)

Manon, 29.01.2011, St. Gallen

Manon: Jan Schmidt-Garre inszeniert Jules Massenets lyrische Oper in St. Gallen mit doppeltem Boden und doppelter Bühne. Eine Figur mit Brüchen.

Mit Logik ist Manon Lescaut nicht beizukommen. Zu flatterhaft erscheint ihr Wesen, als dass es sich in einen geradlinigen Lebenslauf fügen könnte – ob nun hinter Klostermauern, als reiche Gattin oder aus der Zeit gefallene Aussteigerin mit ihrer grossen Liebe Des Grieux. Ein Leben ist zu wenig für die Lebenslust, die in ihr steckt; sie will Spass haben, sorglos glücklich sein, bewundert werden von einer Welt, deren Falschheit sie eigentlich längst leid ist. Die Wahrheit findet sie ausgerechnet dort, wo sie vermeintlich nur nachgestellt wird: In den Kulissen eines Theaters aus vergangenen Zeiten.

Figur mit Brüchen

So jedenfalls sieht es Regisseur Jan Schmidt-Garre, der sich in der St. Galler Erstaufführung der lyrischen Oper von Jules Massenet wie etliche vor ihm bemüht hat, auf Manons Widersprüche und jähe Gesinnungswandel einen Reim zu machen und diesen gemeinsam mit Ausstatter Herbert Murauer in eine szenische Logik zu übersetzen. Das macht den Abend spannend durch und durch, selbst wenn nach knapp dreieinhalb Stunden etliche neue Fragen aufgebrochen sind. Sämtliche Primadonnen, wen wundert es, lieben die Rolle wie kaum eine andere, gerade weil sie so schillert. Mit einer facettenreichen Hauptdarstellerin steht und fällt die beste Inszenierung.

Auch Evelyn Pollock, die in St. Gallen die Manon alternierend mit der kanadischen Sopranistin Siphiwe Edelmann singt, ist mit Haut und Haar Sphinx und Sirene des herzensgut-einfältigen Chevaliers Des Grieux; sie ist kicherndes Nönnchen, Unschuld vom Lande und in Wirklichkeit nichts von alldem: Weil Manon genau jene Unbestimmtheit und Spiellust verkörpert; die unbedingte, amoralische Freiheit, im nächsten Augenblick schon wieder eine andere zu sein. Dafür steht vor allem der vierte Akt im Hotel Transsilvanien, wo beim Kartenspiel die letzte Chance auf ein Happy End buchstäblich verjuxt wird. Mit Leichtigkeit wechselt Pollock die Gesichter und musikalischen Codes, so wie das Mädchen, das in der Eingangsszene auf der kleinen Spielbühne Masken und Kostüme anprobiert. Stimmlich passt ihr die Partie wie angegossen; nur selten lässt sie sich hinreissen zu einer Extraportion Dramatik und Kraft, wo sie an kecken Zweideutigkeiten und sensiblen Zwischentönen längst alles erreicht hätte.

Schöner Doppelsinn

Die Musik der Oper für sich genommen, von der vielseitig fordernden Titelpartie bis in die feinsten Verästelungen des Orchesters, bietet reichlich Amüsement und Abwechslung; das Libretto nach dem Roman «Manon Lescaut» aus dem 18. Jahrhundert rollt dazu eine Art Roadmovie im Postkutschenzeitalter über die Bühne. Zumindest im Originalzustand. Schmidt-Garre nimmt jedoch einschneidende Kursänderungen am Handlungsverlauf vor: In seiner Lesart ist Manon immer schon angekommen. Im Nirgendwo.

Der Text gibt dem Regisseur an entscheidenden Stellen durchaus recht; einzelne Sätze werden regelrecht zur Einladung, ihrem Doppelsinn zu folgen: So etwa Des Grieux' erste Worte «Ich habe mich in der Zeit geirrt». Ursprünglich heisst das, dass ihm gerade die Kutsche abgefahren ist – und in der Wartezeit sogleich die Liebe seines Lebens über den Weg laufen wird, mit der er wenig später durchbrennt. Bruno Ribeiro hingegen fällt von der Bühne wie Tom Baxter in Woody Allens Filmkomödie «The Purple Rose of Cairo» aus der Leinwand, wild entschlossen, Manon in ein besseres Leben zu entführen. Mit altmodischem Frack und Zopfperücke, galanten Worten und ehrlichen Absichten wirkt er, als habe er eine Zeitreise hinter sich – dafür bietet der portugiesische Tenor unwiderstehliche Lauterkeit und stimmliche Leidenschaft auf. Als Priester gefällt er ebenso wie knapp vor dem Abgrund.

Echtheits-Theater

Massenet hat für die Launen eines Luders, das sich nach Echtheit sehnt und dafür viel zu schnell und zu oft die Rollen wechselt, den passenden Sound kreiert: eine Oper subtiler Brüche und Umschwünge auf engstem Raum, voll eingestreuter Zitate und Anspielungen. David Stern am Pult des Sinfonieorchesters St. Gallen setzt sie präzise und klar, ohne den sentimentalen Schmelz der Partitur anzutasten, mit dem die Übermacht der Gefühle jede soziale Strategie untergräbt. Man könnte sich etwas vormachen und die Anführungszeichen überhören, in denen die Musik spricht. Doch das Spiel auf der zwiefachen Bühne ist eindeutig in seiner Betonung der Maskerade.

Das Theater im Theater wird Leitmotiv bleiben, im zweiten Akt ganz in den Vordergrund rücken, später wie ein Museum symbolisch aufgeladene Gegenstände in Erinnerung bewahren – den alten Globus als Zeichen des Aufbruchs in andere Welten, das Tischchen, an dem Manon und Des Grieux für kurze Zeit ein glückliches Paar sind; sogar die Blumen, die Manon im Moment ihres Verrats zu Boden geworfen hat, liegen in der Schlussszene noch unberührt da. Das ermöglicht schlüssige Ensemble- und Chorszenen ohne grossen dekorativen Aufwand und bringt sangliche und darstellerische Leistungen bis in die Nebenrollen bestens zur Geltung. Langer, uneingeschränkter Applaus für alle ist am Ende mehr als logisch.