Empfindsamkeit

Michelle Ziegler, Neue Zürcher Zeitung (31.01.2011)

Manon, 29.01.2011, St. Gallen

Jules Massenets «Manon» am Theater St. Gallen

Die Wechselwirkung zwischen Öffentlichem und Privatem macht die Geschichte der Manon Lescaut von Abbé Prévost geradezu ideal für eine Umsetzung als Oper – zumindest im Verständnis Jules Massenets. Seine Librettisten Henri Meilhac und Philippe Gille lassen in ihrer «Manon» grossartige Volksfeste auf intime Szenen des Liebespaars folgen. Man findet sich einmal in der Privatsphäre im Zimmer des Liebespaars wieder, ein andermal auf dem bevölkerten Cours-la-Reine bei den Champs-Elysées. Massenets Drame lyrique thematisiert denn auch die Brüche zwischen der Gesellschaft und dem Individuum.

Das drückt Jan Schmidt-Garre in seiner Inszenierung im Theater St. Gallen aus, indem er im ersten Akt mitten im Bühnenraum einen Theaterpavillon (Bühnenbild: Herbert Murauer) placiert. Er versinnbildlicht einerseits die Intimität des Liebespaars, andererseits die romantische Welt des Chevalier Des Grieux. Folgerichtig wird dieser opulente barocke Raum im intimen zweiten Akt herangezoomt: Nun nimmt er die ganze Bühne ein, der Zuschauer blickt direkt in das «Theater im Theater». Mit Perücke, Strümpfen und Schuhen mit Absatz und Schnalle gehört Des Grieux eindeutig dieser Welt an, die seinen idyllischen Traum abbildet; Manon hingegen nur zeitweilig.

Mit der Figur der Manon geht Schmidt-Garre etwas unbeholfen um. Das Libretto und die Musik Massenets versehen sie zwar mit einer ganz eigenen Kontur, dennoch weist sie widersprüchliche Charaktereigenschaften auf, die in der Umsetzung klar ausgedeutet werden müssen. Manon verliebt sich im ersten Akt Hals über Kopf in den Chevalier, um ihn im zweiten Akt in einer abrupten emotionalen Kehrtwende zu verlassen. Ist sie das naive Mädchen, das als Opfer auf die Tücken des Lebens in der Grossstadt hereinfällt? Oder hat sie als gewissenlose Intrigantin nur den Reichtum im Kopf? Ist sie scheu und blauäugig oder verführerisch und durchtrieben? Jan Schmidt-Garre, der in verschiedenen Musikfilmen Regie geführt hat und mit «Manon» sein Regiedébut im Musiktheater gibt, ist zu einem anderen Schluss gekommen: Seine Manon lässt sich von Des Grieux verführen, weil sie genug hat von der Doppelbödigkeit der Gesellschaft und echte Gefühle erleben möchte. Dennoch zögert sie im ersten Akt, ob sie ihr Leben tatsächlich dem unberechenbaren, temperamentvollen Mann anvertrauen soll.

Diese Lesart führt in der Inszenierung in St. Gallen zu Widersprüchlichkeiten. Manon lechzt nach einem ehrlichen Leben und echten Gefühlen, kann sich Des Grieux aber selbst nicht ganz hingeben. Die gemeinsame Flucht im ersten Akt und Manons Verrat wirken so beide unglaubwürdig. Manon als die Zögernde und sich nach Unschuld Verzehrende: Das geht nicht auf. Der Fehlschluss wird erst recht offensichtlich, wenn sich Manon im dritten Akt doch ganz auf Des Grieux einlässt. Von diesem Moment an hat die Inszenierung ihren Sinn, die Tragödie des berühmten Paares beginnt zu erwärmen. Schmidt-Garre entfernt sich von der unterkühlten, gezierten Liebesbeziehung des ersten und zweiten Akts und entfaltet eine emotional dichte Atmosphäre. Bei ihrem Zusammenkommen in der Kirche Saint-Sulpice treten Evelyn Pollock (Manon) und Bruno Ribeiro (Chevalier Des Grieux) endlich als das grosse Liebespaar auf, das die sentimentale Verzückung der Oper verlangt.

Im Musikalischen indes sind die positiven Eindrücke ungebrochen: Evelyn Pollocks Sopran verfügt über eine fabelhafte Sicherheit und Grösse in den Höhen. Bruno Ribeiro fühlt sich wunderbar in die Rolle des Chevalier Des Grieux ein und setzt seinen voluminösen Tenor bedacht ein. Markus Beam gibt den Lescaut als abgefeimten Geschäftsmann, Wade Kernot mit seinem warmen Bass einen einflussreichen Comte des Grieux. Dem Sinfonieorchester St. Gallen gelingt es unter der Leitung seines Chefdirigenten David Stern, die verschiedenen Weiten des Ausdrucks zu fassen. Einzig die Lautstärke war in der Premiere nicht immer ganz unter Kontrolle.