Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (01.02.2011)
«Tannhäuser» von Richard Wagner mit Harry Kupfer und Ingo Metzmacher in Zürich
Tannhäuser ist heute. Die «grosse romantische Oper», die Richard Wagner später «Handlung» nannte, stammt in ihrer ersten Fassung zwar von 1845 (der Komponist war damals 32), doch was sie verhandelt, ist ein Dilemma, das sich jedem zu jeder Zeit auftun kann. So sieht es Harry Kupfer, der Altmeister der interpretierenden Opernregie und mit seinen Auffassungen zum Realismus im Musiktheater der Nachfahre Walter Felsensteins. Wie er seine Auffassung im Opernhaus Zürich durchführt und wie ihm dabei der Dirigent Ingo Metzmacher zur Seite steht, führt zu einem geistig anregenden, sinnlich tief berührenden Abend, der sogar die Schwächen der Besetzung plausibel erscheinen lässt.
Rot und rot
Das Vorspiel zum ersten Akt wollte an der mit Jubel und ganz vereinzelten Buhrufen aufgenommenen Premiere noch nicht ganz gelingen. Kunststück: Damit einzusteigen, ist ohnehin heikel, erst recht aber in der Art, in der es Metzmacher anlegt. Ganz aus dem Leisen kommt die Musik, und ganz in der Lineatur entfaltet sie sich, die harmonische Füllung tritt zurück – das wird, wenn das Orchester der Oper Zürich volle Sicherheit erreicht hat, seine Wirkung nicht verfehlen. Zumal es einen Vorgriff aufs Ende darstellt, denn zunächst, im Bacchanale, geht es kräftig zur Sache, wird das Tempo angezogen und der Pegel angehoben.
Der einheitliche und zugleich wandelbare Schauplatz, den Hans Schavernoch entworfen hat, wird von Wänden in Chrom und Milchglas durchzogen, die ein umgekehrtes W bilden. In ihrer ICE-Ästhetik wirken sie etwas gestrig, aber sie schaffen räumliche Flexibilität – und die braucht es gerade in diesem Bacchanale. Denn Kupfer erweist sich hier als der gewiefte Arrangeur individuell belebter Massen. Alle sind sie in diesem Salon zu Gast: die Bürger im Smoking, die Admirale und die Kardinäle, deren geistliches Rot bruchlos ins sündige Rot der Venus übergeht. Ein Rot, das sich bald zu Blau wandelt, denn in drei Schritten sagt sich Tannhäuser von Venus los, um in seine Welt zurückzukehren. Es ist die der Gegenwart: Der Kostümbildner Yan Tax hat ihm einen langen Ledermantel verpasst, und seine Harfe ist eine E-Gitarre.
Durchaus heutig ist auch die Stimme Tannhäusers, denn Peter Seiffert, der die Titelpartie in der letzten Zürcher Produktion von Wagners Oper vor zwölf Jahren so wunderbar gesungen hat, gibt Zeichen der Ermüdung zu erkennen. Die Tongebung lässt Festigkeit vermissen, die Farben wirken grell, die Lautstärke ist rasch zu hoch, zumal in dem kleinen Raum des Opernhauses Zürich. Das Orchester nimmt diesen Ton auf, und so herrscht im ersten Drittel des Abends jener eindimensionale Kraftgesang, der gewöhnlich mit Wagner verbunden wird. Er ist alles andere als ein Muss, wie der Brüsseler «Parsifal» zwei Tage vor dem Zürcher «Tannhäuser» wieder erwiesen hat (vgl. NZZ vom 29. 1. 11). In der Partie der teils auf ihre Verführungskraft setzenden, teils in Resignation versinkenden Venus hält Vesselina Kasarova souverän mit, auch wenn die Manierismen, die sie zur Formung ihrer Töne offenbar braucht, immer wieder aufs Neue gewöhnungsbedürftig sind.
Die Verortung von «Tannhäuser» in einem Hier und Jetzt setzt sich fort auf jenem mit aller Liebe zum Detail ausgestalteten Golfplatz, auf dem die Herren rund um den Landgrafen Hermann von Thüringen ihren lange vermissten Freund (und Konkurrenten) Tannhäuser wiederfinden. Übrigens war auch Alfred Muff schon 1999 mit von der Partie; er bewältigt seinen neuerlichen Auftritt als Landgraf mit ungeschmälerter Standfestigkeit – auch im Sängerwettstreit des zweiten Aufzugs, der in einem Fernsehstudio stattfindet, wo die Wartburg noch als Kulisse auf die nun hochgezogene Chrom- und Milchglas-Konstruktion projiziert wird. Und nun beginnt sich die Produktion zu wandeln, nimmt sie mehr und mehr Dringlichkeit an. Schon der Einzug der Gäste funkelt nach allen Seiten, weil hier nicht Choristen auftreten, sondern der Regisseur Individuen gezeichnet hat, und weil der Dirigent das musikalische Geschehen in gezügelter Spannung hält.
Zugleich zeichnet er es aber drastisch aus. Selten wird an einem Abend mit «Tannhäuser» derart handgreiflich, wie langweilig das Lied ist, mit dem Wolfram von Eschenbach zu Beginn des Wettstreits die hohe, hehre, reine Liebe besingt – dass Tannhäuser dagegen seine Stimme erhebt, liegt geradezu auf der Hand. Er tut es mit allem Aplomb (und Peter Seiffert zeigt hier virtuos, was für ein Grenzgänger dieser Tannhäuser ist), jedoch ohne Blick für seine Adressaten; er argumentiert an der gegebenen gesellschaftlichen Realität vorbei und fährt demzufolge scharf auf Grund. Der Künstler, nein, eigentlich jeder Mensch zwischen Selbstverwirklichung und Anpassung – dieser Konflikt, den Harry Kupfer auch vor dem Hintergrund seiner ganz eigenen Lebensgeschichte in Wagners Oper sieht, wird hier messerscharf herausgearbeitet, musikalisch wie szenisch. Zumal die Folie, auf die sich der Einzelne zu beziehen hätte, als so verlogene erscheint: Die Geistlichen, die unter den Gästen des Landgrafen Präsenz markieren, sind dieselben, die im ersten Aufzug Frau Venus ihre Ehre erwiesen haben.
Das Rätsel der Erlösung
Ihren Höhepunkt erreicht die Produktion im dritten und letzten Aufzug. Da stellt sich ein ganz anderes Klima ein – schon im Vorspiel, das die Pilgerfahrt nach Rom schildert: Ingo Metzmacher geht es mit dem ihm eigenen Sinn für leise Farben an, und das Orchester folgt ihm jetzt in voller Kompetenz. Harry Kupfer löst die Rätsel des Stücks nicht, das vermochte nicht einmal Wagner selbst, der bis in seine höheren Jahre immer wieder Hand an den «Tannhäuser» anlegte. Aber der Regisseur vermittelt doch die Botschaft, die er in dem Stück sieht. Sie weist hin auf Mitgefühl und Menschlichkeit.
Schauplatz ist hier eine enorme, ganz und gar leere Bahnhofshalle. Äusserst berührend, wie Nina Stemme als Elisabeth, nachdem sie ihren Heinrich nicht unter den aus Rom Zurückgekehrten gefunden hat, ein letztes Mal betet und dann in Verzweiflung versinkt. Und wahrhaft erschütternd, wie Michael Volle als Wolfram von Eschenbach, nachdem ihn Elisabeth endgültig zurückgewiesen hat, den Kopf in die Hände fallen lässt und aus dieser Position heraus den Abendstern besingt – da ist jede Spur von Wunschkonzert-Beliebigkeit getilgt. Selbst Peter Seiffert, der die Zerrissenheit Tannhäusers mit jeder Faser auslebt, gelingt das Ende grossartig. Was noch folgt, ist Grand Opéra, aber vom Feinsten; die von Jürg Hämmerli und Ernst Raffelsberger vorbereiteten Chöre singen fabelhaft. Opfertod und Erlösung bleiben die Antworten schuldig, das ist das einzig Richtige. Ein meisterlicher Abend; gehet hin.