Christian Berzins, Mittelland-Zeitung (02.02.2011)
Oper: Regiealtmeister Harry Kupfer inszeniert in Zürich Richard Wagners «Tannhäuser»
Als zum Schluss wilde Blitze zucken, dämmerts auch Wolfram von Eschenbach. Endlich hat er kapiert, wie seine Gesellschaft funktioniert: Erst grenzt sie den genialen Künstlerfreund Tannhäuser aus – ist er tot, kanonisiert sie ihn. Dann schaut sogar der Papst vorbei. Das ist für ihn zu viel der Verlogenheit. Seine grimmige Mine deutet es an: Er ist der nächste Aussteiger. In Richard Wagners Oper heisst das: Er wird die Liebe auf dem Venusberg geniessen, dorthin ziehen, wo Tannhäuser einst war, da er der gesellschaftlichen Norm nicht mehr entsprechen wollte oder konnte, dafür selbst die geliebte Elisabeth verliess.
Darüber, was diese Venuswelt – ein die (Wagner)-Welt schockierender Ort – sein könnte, zerbrechen sich die Regisseure den Kopf, der 75-jähriger Regiealtmeister Harry Kupfer bereits zum fünften Mal. «Es sei die Welt der Aussenseiter», sagt er im Programmheft. Und darum, fragen wir leicht ironisch, lässt er dort aufreizende Damen tanzen? Darum treibt sich der Klerus dort herum, jene Bischöfe, die beim Sängerwettstreit in den ersten Reihen sitzen?
Harmlose Aktualisierung
Genug gelästert. Kupfer wagt im Opernhaus Zürich den Spagat zwischen schlüssiger Erzählung, Aktualisierung und Interpretation. Die Aktualisierung gelingt problemlos: Tannhäuser, eine elektrische Gitarre in die Hand gedrückt, wird zum Jimi Hendrix der Wartburg, Walther von der Vogelweide spielt mit dem Landgrafen Golf, der Sängerwettstreit findet im TV-Studio statt und Elisabeth wartet zu guter Letzt in einem Bahnhof auf die Pilger. So weit, so harmlos. Womit wir wieder beim Beginn wären, beim Venusberg...
Ist dieses von Philipp Egli prächtig choreografierte hocherotische Bacchanal bloss ein Traumgebilde von Tannhäuser? Wegen eines Besuches bei ein paar leicht geschürzten Damen wird heute keiner mehr von der Gesellschaft ausgestossen (sogar italienischer Ministerpräsident kann man bleiben). Doch aus dem Traum wird Realität. Als Tannhäuser der Lustwelt entfliehen will, bietet ihm Venus zwei «Krankenschwestern» an. Zum Glück ruft der Künstler sogleich Maria an und – schwups – landet er auch schon in der normalen Welt. Anstatt eines Hirten empfängt ihn auch hier eine Krankenschwester, die allerdings einen seriösen Eindruck macht.
Konsequenter als die Regie ist das Dirigat Ingo Metzmachers. Obwohl zwar Unebenheiten zu hören sind, ist sein Klangbild spannend. Wie er einen straffen, vorwärtsdrängenden Klang formt und gleichzeitig in tempomässig sehr gedehnten Passagen geradezu eine süss-romantische Verklärung sucht, macht Eindruck. Klug auch, wie er die unterschiedlichen Sänger begleitet.
Sparen ist morgen
Am interessantesten ist die Venus-Debütantin Vesselina Kasarova. Bereits vor 21 Jahren sang sie in Zürich Wagner, war sie doch von Pereira-Vorgänger Christoph Groszer von Bulgarien nach Zürich gelotst und gleich als zweite Norne und Wellgunde in der «Götterdämmerung» eingesetzt worden. Bald triumphierte sie weltweit mit Mozart und Rossini. Es ist Zeit, weiterzugehen: 2008 sang sie die Carmen – und nun, folgerichtig, die Venus. Bald folgt Eboli.
Selten haben wir einen so überaus überlegten, aus dem einzelnen Wort heraus gestalteten Venusgesang gehört. Kaum eine weiss den dynamischen Bogen so sinnlich zu spannen und prächtig auszureizen. Immer ist klar: Singen ist Kunst, jede Phrase, jede Geste Reflexion. Dass es auch völlig anders geht, zeigt der Tenor Peter Seiffert. Hier stimmt (noch) fast alles von Natur aus: ein Heldentenor mit nach wie vor jugendlichem Übermut. Seiffert kann geradeheraus singen, bisweilen brüllen und vieles geht gut. Aber längst nicht alles. Ja, bange fragt man sich im 1.Akt, wie er die Romerzählung im 3. überstehen soll. Doch siehe da: Wo andere versagen, triumphiert er. Michael Volle (Wolfram) gestaltet genauso feinsinnig wie Kasarova, doch die Feier der Balsamtöne zeigt ihm im Lied an den Abendstern auch die Grenze auf. Nina Stemme, das Wagner-Wunder unserer Tage, hat als Elisabeth keine Probleme: Gewiss, die Hallenarie klingt scharf, aber alles sitzt prächtig. Allein ihr Kleid ist geschmacklos. Bei einem Gang durch die Bahnhofstrasse hätte sie in jedem zweiten Geschäft etwas Passenderes gefunden, und erst noch viel billiger im Ausverkauf.
Doch diese Produktion steht einmal mehr ganz unter Alexander Pereiras einst so erfolgreichem Motto: «Investier’, dann wird Dir gegeben!» Diesmal dürfte es aufgehen. Nach Vierdreiviertel Stunden verlässt man das Opernhaus bereichert.