Alfred Zimmerlin, Neue Zürcher Zeitung (26.02.2011)
«Don Giovanni» am Stadttheater Bern
Die Bühne von Julia Hansen ist abstrakt: eine weisse, fliessende textile Landschaft als assoziative Mischung von Brautkleid und Himmelbett. Die Kostüme, mit denen sie die Figuren in Wolfgang Amadeus Mozarts und Lorenzo Da Pontes Oper «Don Giovanni» ausstattet, pendeln stilistisch zwischen den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts und unserer Gegenwart und sind damit alles andere als abstrakt. Einen gegenwärtigen Zugang zum Werk also zeigt das Stadttheater Bern. Mit Bildern, die zu unserem Erfahrungsschatz gehören. Denn wie in der Inszenierung von Elisabeth Linton die Personen auf der Bühne miteinander agieren, hat viel Realitätsgehalt.
Man kann ihre Gebärden in unseren Städten an Freitag- und Samstagabenden auf den Strassen beobachten: Der Polterabend von Zerlina und Masetto wirkt echt, und im Ganzen bewegt sich Don Giovanni wie ein nimmermüder Macho von heute. Harmlos beginnt das Spiel, unterstrichen durch (allzu) zahlreiche Gags. Die Doppelbödigkeit der Figuren wird präzise gezeigt. Wenn etwa Donna Anna am Anfang sich ganz ihrem Verführer hingibt, erhalten ihre Worte des Protests und ihre Hilfeschreie plötzlich eine erotische Bedeutung. Auf die Messerstecherei mit dem Komtur lässt sich Don Giovanni nur widerwillig ein, und er tötet ihn erst, nachdem er selber eine Wunde empfangen hat. Man kann durchaus Sympathie für ihn empfinden.
Im 2. Akt indes wird die Schraube unerbittlich angezogen. Es wird einem bewusst, was für ein Maniac dieser Don Giovanni ist, und man beginnt ihn zu hassen. Beim Nachtessen, zu dem der tote Komtur geladen ist, werden keine Speisen aufgetischt, auf der Tafel sind anonyme, puppenhafte Frauenleiber in weissen Unterröcken drapiert, welche von Don Giovanni genommen, verbraucht und weggeworfen werden. Ein Bild, das brutal entlarvt, welches Zerstörungswerk der Protagonist vollbringt. Der Komtur taucht während der ganzen Oper immer wieder als nur für das Publikum sichtbarer Beobachter auf; somit erhält am Schluss sein Auftritt als Gast eine erbarmungslose Konsequenz. Eine Inszenierung also, die mit markanter Nutzung des Raums und mit Bildern, die einen treffen, das Unerbittliche und Zeitlose des Stoffs so zeigt, dass er uns heute viel angeht.
Da würde man sich musikalisch etwas Adäquates erhoffen: eine Interpretation auf der Höhe unserer Zeit. Doch die ereignet sich leider mitnichten. Der Stil, Mozart zu interpretieren, den der Dirigent Dorian Keilhack im tiefen Orchestergraben mit dem Berner Sinfonieorchester pflegt, hat eine dicke Patina angesetzt. Nicht selten kommt es zu erheblichen Koordinationsproblemen. Keine Spur von einem transparenten kammermusikalischen Musizieren. Oft ist der Klang fetter, als es die üppig instrumentierte Partitur nötig macht. Glücklicherweise agieren die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne beweglicher.
Vorab Robin Adams gibt einen stimmlich durchwegs überzeugenden Don Giovanni. Zusammen mit dem nicht minder agilen Carlos Esquivel als Leporello bringt er auch ein fabelhaftes, körperbetontes Spiel auf die Bühne, und man versteht, dass ein spezielles Stunt-Training notwendig gewesen war. Simone Schneider gibt Donna Anna mit differenzierten Farben Überzeugungskraft und Intensität, und Fabienne Jost bringt den hier gezeigten Entwicklungsprozess von Donna Elvira von der anfänglichen Beinahe-Karikatur zur völlig in das Geschehen involvierten, verletzlichen Persönlichkeit sowohl schauspielerisch als auch mit ihrer vokalen Gestaltungskraft zu starker Wirkung. Leider war Andreas Hermann als Don Ottavio am Premierenabend nicht ganz bei Stimme, umso mehr, als «Il mio tesoro intanto» aus der Prager Fassung erklang. Sehr schön die Auftritte von Anne-Florence Marbot als Zerlina, Milcho Borovinov als Möchtegern-Macho Masetto und Luciano Batinic als Komtur.