Urs Mattenberger, Neue Luzerner Zeitung (01.03.2011)
Ensembletheater statt Starkult: Donizettis Belcanto-Oper ist in Luzern starkes Regietheater. Und man flüchtet sich vor Aufregung auch mal ins Badezimmer.
Wieso wird in der Oper immer so lange gesungen, bis es zur Sache geht? Die Frage ist Rochefort, dem Mann im jugendlichen Schlabberlook, der beim Techtelmechtel mit seinem schwulen Freund überrascht wird, ins Gesicht geschrieben. Denn unverhofft ist Percy aufgetaucht, ein Jugendfreund, der mit viel tenoralem Schmelz umständlich von seiner grossen Liebe zu Rocheforts Schwester Anna jammert. Ihretwegen ist er zurückgekommen, nicht ahnend, dass sie längst mit dem Erfolgsmenschen Enrico verheiratet ist.
Den Stoff zu Gaetano Donizettis «Anna Bolena» lieferte das Leben des englischen Königs Heinrich VIII. Wie man solche historische Opernhandlungen beschleunigen kann, zeigt sich, wenn Rochefort später in der Inszenierung von Tobias Kratzer kurzerhand per SMS ein Date zwischen Percy und Anna organisiert. Während zwischen Letzteren im Salon im Erdgeschoss die Gefühle einer grossen, aber unmöglich gewordenen Liebe hochgehen, verziehen sich Rochefort und sein Zufallsbekannter ins Obergeschoss, reissen sich die Kleider vom Leib und verschwinden gerade noch rechtzeitig ins Badezimmer nebenan.
Lust und Laune
Tobias Kratzer lässt so in seiner zwischen Strindberg und Hollywood schillernden Deutung (vgl. Ausgabe vom Freitag) unterschiedliche Beziehungskonzepte aufeinanderprallen. Zwischen ewiger Liebe und Zufallsbekanntschaft bewegt sich Annas Ehemann Enrico: Das kompromittierende Video, das Anna während der Ouvertüre im Bücherregal ihres goldenen Villenkäfigs findet, sowie die angedeuteten Sadomaso-Spielchen zwischen Enrico und seiner Geliebten Giovanna verraten, dass dieser Mann Frauen nur als Sexspielzeuge nach Lust und Laune gebraucht und wieder wegwirft. In Luzern verspricht Enrico der Geliebten die Ehe praktisch für einen Quickie auf dem Schminktisch, wozu rechtzeitig der Vorhang fällt.
Klar, die Übertragung einer Opernhandlung in eine heutige Highsociety geht auch bei Kratzer nicht ohne Klischees und ein paar Ungereimtheiten, wie etwa die, dass Anna viel zu früh erkennt, dass ihre Rivalin ihre Freundin ist. Aber einerseits wird das hier im ersten Akt unglaublich lebendig und natürlich umgesetzt. Andererseits hebt das den zweiten Akt auf eine gespenstisch anmutende Fallhöhe: Annas Dutzendschicksal als betrogene Ehefrau bekommt hier in Renaissancekostümen und -kerkern das Gewicht einer wuchtigen Tragödie.
Kratzer stellt unser Verhältnis zum Pathos gerade dadurch zur Diskussion, dass er es nach der Ironisierung im ersten Akt hier geradezu zelebriert. Und dass Anna als einzige Figur im Stück dieser Renaissanceprojektion verhaftet bleibt, macht hier nicht nur ihren Wahnsinn zum Schluss plausibel. Es verhilft dem ganzen Plot am Ende zu einer überraschenden Wende.
Solides Niveau
Wenn es in dieser Belcanto-Oper einen Star gibt, dann ist das am ehesten das Bühnenbild von Rainer Sellmaier. Seine zweigeschossige Villeninnenschau ermöglicht quasi filmische Überblendungen. Sängerisch dagegen ist diese Produktion Ensembletheater mit all seinen Vor- und Nachteilen. Zum einen ist beeindruckend, dass ein Haus wie das Luzerner Theater ein solches Werk vollständig mit eigenen Sängern besetzen kann. Zum andern verhindert der Verzicht auf Gäste auch Spitzenleistungen, die aus diesem soliden Niveau herausragen.
Sängerisch wird hier mit einer Art Überdruck agiert, der der Geschmeidigkeit und dem aufblühenden Melos, das man von einer Belcanto-Oper auch erwartet, im Weg steht. Wahrhaftigkeit im Ausdruck statt purer Schöngesang: Das gilt auch für die mit Spannung erwartete Gestaltung der Titelrolle durch die Sopranistin Madelaine Wibom. Sie stösst zwar namentlich in den Spitzentönen an ihre Grenzen, verhilft aber der am Betrug und am Scheitern der Liebe verzweifelnden Ehefrau zu ergreifender Theatralität. Das Gegenstück dazu ist Utku Kuzuluks Percy, der trotz tenoralem Schmelz darstellerisch wie sängerisch dieses dramatische Format vermissen lässt. Beides findet zusammen in Boris Petronjes Enrico, am stimmigsten aber in kleineren Rollen, etwa in Caroline Vitales kühler Geliebten Giovanna oder in der Lässigkeit von Flurin Caduffs Rochefort.
Eine Hauptrolle spielt dabei auch das Luzerner Sinfonieorchester unter der Leitung von Florian Pestell. Da verbindet sich dramatische Attacke mit einem leichten, auch farbig aufgefächerten Klangbild, das Belcanto-Qualitäten gerade im Instrumentalen zur Geltung bringt. Da waren zum Schluss auch die paar heiklen Momente vergessen, die ein paar Buhs befürchten liessen: Der Applaus des Premierenpublikums war am Ende überaus herzlich und wollte nicht enden.