Im Land der Leintücher

Patrick Fischer , Der Bund (26.02.2011)

Don Giovanni, 24.02.2011, Bern

Mit einfachen Mitteln und starken Stimmen garantiert die neue Berner «Don Giovanni»-Produktion für weitgehend ungetrübtes Opernvergnügen. Eine Idealbesetzung ist Robin Adams in der Titelrolle.

Der wuchtige d-Moll-Akkord der Ouvertüre von Mozarts «dramma giocoso» «Don Giovanni» ist im Orchestergraben verhallt, und schon hebt sich der schwarze Vorhang. Vom Bühnenhimmel des Berner Stadttheaters ergiessen sich lange, weisse Stoffbahnen in den Raum. Leintücher? Hochzeitsschleier? Grabtücher? Einerlei! Don Giovanni knutscht Donna Anna, Leporello steht Schmiere und ist bereits auf hundertachtzig, weil er der ewigen Scherereien müde ist. Er wird gleich virtuos zu lamentieren beginnen, wenn die mit teils illustrierenden, teils störenden Pantomimen unterlegte Ouvertüre zu Ende ist. Dazwischen eilt noch der ewig hilflose Don Ottavio durch die Gegend.

Bereits in den allerersten Minuten wird die Stossrichtung der neuen Berner «Don-Giovanni»-Produktion klar, welche im Stadttheater beim Premierenpublikum auf freundliche bis begeisterte Zustimmung stiess: Regisseurin Elisabeth Linton und Bühnenbildnerin Julia Hansen setzen auf wenige, wirkungsvoll eingesetzte Requisiten und räumen den Sängerdarstellerinnen und -darstellern viel Spielraum ein. Das verlässliche Orchester (Leitung: Dorian Keilhack) hat – ungeachtet profilierter Leistungen – nicht nur aufgrund des tiefen Grabens hintanzustehen. Das solide, aber wenig inspirierte Dirigat Keilhacks vermag es auch nicht mit zündenden Ideen aus der Defensive zu führen.

Kaum Experimente

Abgesehen davon, dass der Komtur während des ganzen Abends als Untoter immer wieder auf der Bühne auftaucht, verzichtet die Regie weitestgehend auf Experimente oder ausgefallene Deutungsversuche und überlässt die Szenerie den Akteuren: Robin Adams ist als Don Giovanni nachgerade eine Idealbesetzung. Darstellerisch dauerpräsent und stimmlich unglaublich wandlungsfähig, umgarnt und bezirzt er die Damen mit feinsten Pianissimoschauern, trumpft mit kraftstrotzend vitalen Kaskaden auf und lässt am Schluss die Oberflächlichkeit dieser von (Zerstreuungs-)Lust getriebenen Person erstaunlich vielschichtig erscheinen. Der zwischen Singen und Schreien changierende Ausdruck offenbart ungeahnte Tiefe. Auch darstellerisch agiert Adams sehr geschickt, vollbringt bisweilen nachgerade athletische Leistungen, wenn er sich wieder mit irgendeinem Opfer in den omnipräsenten Leintüchern verheddert, sich vor einem Menschen nicht nur charakterlich, sondern auch ganz körperlich verbiegt oder dem Orchestergraben entlang seinen Häschern davonspurtet.

Sängerzentriert inszeniert

Sein Kumpan Leporello, glaubhaft und mit komischem Talent verkörpert von Carlos Esquivel, steht seinem Meister in nichts nach. Auch er überzeugt sängerisch mit atemberaubender Virtuosität in den Koloraturen, feinen, oftmals ironisch gebrochenen Klangschattierungen und einem breiten Ausdrucksspektrum. Am ohrenfälligsten kommt dieses zum Tragen, wenn Leporello Don Giovannis Stimme imitiert, um Donna Elvira – einmal mehr – hinters Licht zu führen.

Auch in schauspielerischer Hinsicht verfügt Esquivel über eine Vielzahl von Registern, wie wenn er die Eroberungen seines Meisters in aller Herren Ländern preist. Aber auch als Gespann harmonieren die beiden männlichen Hauptakteure bestens und wissen die vorhandenen Räume zu nutzen. Über weite Strecken besticht die Regie auch durch glaubhafte Personenführung und geschickte Raumnutzung. Ausnahmen bilden die eher an eine Schulhofprügelei erinnernde Ermordung des Komturs und die Trauerszene, in der Donna Anna ihrem etwas hölzernen Don Ottavio den Racheschwur abringt. Simone Schneider muss der verinnerlichten Trauer im hinteren Bühnenraum Ausdruck verleihen. Wenn die Sopranistin mit zunehmender Wut in den vorderen Bühnenraum tritt, wird erst ihr ganzes gestalterisches Potenzial offenbar. Ansonsten überzeugt Schneider mit grosser Strahlkraft und klanglicher Noblesse.

Unheimlicher Komtur

Einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt Andreas Hermann als Don Ottavio. Gewiss, einer so blassen Figur Profil zu verleihen, ist nachgerade ein Widerspruch in sich. Nichtsdestotrotz klingt Hermanns Tenor am Premierenabend wiederholt matt, und diverse Koloraturen sind verwischt. Unschärfen im sonst durchwegs souveränen bis brillanten Sängerensemble zeigt auch Fabienne Jost als Donna Elvira. Wohl überzeugt die Sopranistin mit reichem klanglichem Repertoire und verleiht der aus Liebe immer wieder rückfälligen Dame Noblesse und Charme. Dennoch irritierten bei aller Klangschönheit am Premierenabend Intonationsmängel in technisch anspruchsvollen Passagen.Ihre ungleich leichtere Ausgangslage voll auszunutzen vermögen dagegen Anne-Florence Marbot als Zerlina und Milcho Borovinov als Bauer Masetto: Die Sopranistin gibt ganz das kesse Mädchen, dem man seine Naivität nur halb abnimmt. Sie begeistert mit schauspielerischem Temperament, vor allem mit äusserst wirkungsvollem Mienenspiel, aber auch mit einer sängerisch weit mehr als soliden Leistung. Der Bass sorgt einerseits als gehörnter Provinzmacker für Erheiterung, weiss aber auch sängerisch zu überzeugen, vor allem wenn der Bauervor dem Lebemann kapitulieren muss.

Fast immer präsent, sängerisch jedoch nur kurz, ist Luciano Batinic als Komtur. Er verleiht seiner Figur eine dunkle, unheimliche Aura und stimmliche Monumentalität. Irritierend ist einzig, dass er zum Schluss nicht dem sterbenden Don Giovanni gegenüber, sondern etwas unbeholfen neben ihm steht, was der sonst stimmig aufgebauten Wirkung des Schlussbilds Abbruch tut.

Wer nicht viel wagt, kann trotzdem einiges gewinnen, wenn man ein so gutes Sängerensemble hat. Die Produktion wird gleichermassen dem Werk gerecht und garantiert für ein weitgehend ungetrübtes Opernvergnügen. Schön!