Leibesfülle und Lebensfülle

Marianne Zelger-Vogt, Neue Zürcher Zeitung (22.03.2011)

Falstaff, 20.03.2011, Zürich

Giuseppe Verdis «Falstaff» im Zürcher Opernhaus

Die Annäherungsversuche des dicken Ritters John Falstaff gegenüber den Damen Alice Ford und Meg Page sind reichlich plump und berechnend – ihre Geldbeutel interessieren ihn fast mehr als die Frauen selbst, deshalb erspart er sich die Mühe, die zwei Angebeteten in individuell abgefassten Briefchen zum Rendez-vous zu bitten, und das erweist sich als entscheidender strategischer Fehler. Doch wie die zwei Empfängerinnen, nachdem sie ihm auf die Schliche gekommen sind, im Verein mit Alice' Tochter Nannetta und der als Botin dienenden Mrs Quickly Falstaff in die Falle locken, wie ihn seine miesen Diener an Alice' eifersüchtigen Ehemann verraten, wie er seinen gewaltigen Leib in einen Wäschekorb zwängen muss und aus diesem in die Themse gekippt wird, wie schliesslich das ganze Städtchen im Park von Windsor Jagd auf ihn macht – ein Sommernachtstraum, der zum Albtraum wird: Das tut einem bei allem Widerwillen gegenüber dem adelsstolzen Fettwanst in der Seele weh, und man fühlt mit ihm, wenn er, schlotternd und den Bauch voller Wasser, singt: «Schlechte Welt. Gemeine Welt. Schändliche Welt.»

Spricht da nicht Giuseppe Verdi selbst, der sich als Achtzigjähriger mit «Falstaff» von der Opernwelt verabschiedet? Ist es nicht die düstere Lebensbilanz eines alten Mannes, der sich, sein Schöpfertum und seine Zeit enden sieht? Arrigo Boito, der kongeniale Textdichter, der Verdi zu dieser letzten Shakespeare-Oper animiert hat, schlägt in den als kunstvolle Fuge komponierten Schlussversen einen anderen, heiteren und versöhnlichen Ton an: «Alles auf der Welt ist Posse.» Und daran orientiert sich Sven-Eric Bechtolfs Inszenierung im Zürcher Opernhaus. Rolf Glittenbergs Bühne zeigt den Umriss eines weissen, scheunenartigen Raumes mit wechselndem Hintergrund und minimaler Möblierung. Eine subtile Lichtregie (Jürg Hoffmann) verleiht der strengen, nüchternen Architektur Stimmungshaftigkeit. Marianne Glittenbergs Kostüme setzen mit ihren herrlichen Stoffen nicht bloss farbliche Akzente, sie bilden ein zentrales Element der szenischen Interpretation. Falstaffs üppiges Renaissance-Wams und die gediegenen, von der Mode der 1930er Jahre inspirierten Kleider der Einwohner von Windsor: Sie repräsentieren nicht nur zwei Epochen, sondern zwei Lebensarten, hier die bürgerlich rigide, dort die sinnlich dionysische.

Doch diese Lebensarten stehen sich nicht undurchlässig gegenüber, Bechtolf will vielmehr zeigen, wie Falstaff seine bürgerliche Umwelt nach und nach infiziert, wie er hinter den puritanischen Fassaden elementare Lebenskräfte freisetzt. Das veranschaulicht Marianne Glittenberg, indem sie Falstaffs Kostüm auf die Kleidung der Personen, die mit ihm in Berührung kommen, abfärben lässt. Bechtolfs Lesart des Stücks hat zur Folge, dass die Figuren vor allem durch ihre Körpersprache, ihre Aktionen und Konstellationen definiert werden. So wirkt das Geschehen in den ersten beiden Akten etwas unterkühlt, zu sehr auf Betriebsamkeit reduziert. Die Wende kommt mit dem dritten Akt, und sie ist auch Daniele Gatti zu verdanken, dem neuen Chefdirigenten, der mit «Falstaff» seine erste Neuproduktion am Opernhaus leitet.

Gatti scheint das Werk grundsätzlich etwas anders zu sehen als das Regieteam, er zeigt wenig Sinn für die Transparenz und feine Faktur der Partitur, den vorherrschenden Konversationston, vielmehr setzt er auf Lautstärke und fülligen Ton, was der perfekten Abstimmung zwischen dem konzentriert aufspielenden Orchester und den Solisten nicht förderlich ist. Wenn sich mit Falstaffs Monolog das Geschehen beruhigt, tut der warme Klang des Orchesters jedoch seine Wirkung, entfaltet sich eine reiche Palette von Farben, und erst recht gilt dies für das Schlussbild, dem ein spinnwebartiger Wald unwiderstehlichen Zauber verleiht. Hier wird das Abschiedswerk musikalisch und szenisch zum Fest des Lebens und der Lebensfreude.

Im Mittelpunkt steht natürlich Ambrogio Maestri, ein Falstaff-Interpret, dem die Titelrolle so sehr auf den Leib geschnitten ist, dass er in seiner Darstellung und im Umgang mit seiner mächtigen, doch wenig modulationsfähigen Stimme gelegentlich etwas nachlässig wirkt. Auch Massimo Cavalletti als Ford beschränkt sich zu sehr auf eine einzige, allerdings intensive Klangfarbe. Umso genauer hört man hin, wenn Javier Camarena als Fenton seinen geschmeidigen Tenor erstrahlen lässt. Zusammen mit der glasklar singenden Nannetta von Eva Liebau bildet er das Verbindungsglied zwischen Männer- und Frauenwelt, von der Regie immer wieder markant ins Zentrum gestellt: zwei junge Hoffnungsträger auch im Tenor- und Sopranfach. Aus der Fülle ihrer Erfahrung und ihrer reichen stimmlichen Mittel schöpfen Barbara Frittoli als Alice, Yvonne Naef als Quickly und Judith Schmid als Meg jede eine Persönlichkeit mit fein ziseliertem Profil. Dass nicht Alice' schwächliche Diener den Korb mit Falstaff in die Themse kippen, sondern die vier Frauen selbst, ist da nur folgerichtig.