Herbert Büttiker, Der Landbote (22.03.2011)
Ein voluminöser Mensch ist Falstaff, rundum geglückt ist im Opernhaus die neue Produktion von Giuseppe Verdis Spätwerk, der skeptisch versöhnlichen Komödie, in deren Gelächter die fulminante Dramatik seines Lebenswerks nachbebt.
«Tutti gabbati»: Wir sind alle Geprellte, verkündet die berühmte Fuge, mit der Giuseppe Verdi als 80-Jähriger sein Opernschaffen 1893 beschloss. So buffonesk und spritzig die Stimmen durcheinanderwirbeln, so sehr hat dieses Fazit in der strengen Form und geballten Klangentladung auch etwas Grimmiges. An der Premiere am Sonntagabend trafen im Opernhaus das grossartige Solistenensemble, der Chor und das Orchester unter der Leitung von Daniele Gatti den Ton schlagkräftig und fein ziseliert genau. Die Spannung, die damit gegeben war, löste sich im mächtigen Applaus.
Er war die Quittung für einen rundum geglückten Abend mit dem Bariton Ambrogio Maestri als Titelhelden im Mittelpunkt, der für die Rolle des Falstaff geboren scheint, physisch, wie der Text verlangt, «enorm», und auch als Sänger allen Facetten der Partie souverän gewachsen. Zu erleben ist ein gewaltiger Polterer in seinen Schimpftiraden, im Selbstmitleid ein grummelnder Choleriker, in seinen galanten Unternehmungen ein schmiegsamer Flatteur sogar im Falsett. Wehe wenn er aufsteht und den Diener Bartolfo in die Mangel nimmt. Und doch, wie schwerelos tänzelt er, wenn er mit «Va, vecchio John» sich selber bauchpinselt.
Triumph der Frauen
Schwer und leicht zugleich: So sieht auch der Regisseur Sven-Eric Bechtolf die Figur. Leicht ist der dicke Ritter vor allem für die lustigen Weiber von Windsor – leicht geht er ihnen in die Falle, die sie ihm für seine respektlosen Avancen stellen, und während vier Diener den Wäschekorb, in dem er sich verstecken muss, nicht zu heben vermögen, schaffen sie es, ihn samt dem Koloss über das hohe Fensterbrett zu kippen.
Falstaffs unfreiwilliges Bad in der Themse zum turbulenten zweiten Aktschluss ist der spektakulärste Coup der Frauen, aber nicht der einzige. Barbara Frittoli hat als Mrs Alice Ford allen Grund, sich als anmutige Diva mit Sopranschmelz und auch etwas schwerer Kantilene fast schwebend durch das Intrigengespinst zu bewegen. An ihrer Seite hat sie die von Falstaffs Avancen mitbetroffene Mrs Meg Page, die sich mit Judith Schmid als beeindruckend robustes Wesen erweist. Und als Zwischenträgerin ist Yvonne Naef mit stimmlicher Grandezza als Mrs Quickly. Nicht nur Falstaff ist von ihrem gravitätischen «Reverenza» beeindruckt. Strahlend, voller Anmut in silbrigen Kantilenen, kontrastiert zu ihr Eva Liebaus Nanetta. Sie ist aber auch im staccatoreichen Treiben der Frauen mit im Spiel, dessen rhythmische Lebendigkeit und Präzision immer wieder besticht. Letzteres gilt ebenso für den Männerbund der Oper, die auch ein Wunder formaler Symmetrien und Spiegelungen ist. Bechtolfs kunstvolle Personenführung verdeutlicht es vor allem im zweiten Bild, wo die männlichen und weiblichen Parallelaktionen je für sich laufen, Verdi die Gruppen aber musikalisch genial verschachtelt.
Die Geometrie der Küsse
Wie Nanetta und Fenton die Grenzen schmusend und belcantoselig überwinden, zeigt die übersichtliche Geometrie des Arrangements besonders schön. Mit Javier Camaren ist ein Tenor im Spiel, der den ganzen Zauber der jugendlichen Figur verströmt. Wie Nanetta ins weibliche, ist auch er ins männliche Ensemble am Rand involviert. Zu diesem gehören als windige Typen Bartolfo und Pistola Falstaffs unloyale Diener, sowie Dr. Caius, den Ford als gute Partie für Nanetta favorisiert. Mit Martin Zysset, Davide Fersini und Patrizio Saudelli erhalten diese Nebenfiguren exzellente Bühnenpräsenz, wenn sie sich um Ford scharen, den Bürger, der mit krankhafter Eifersucht und Geld gesegnet gegen seine Frau Alice den Ehekrieg eröffnet.
Fords Eifersuchtsraserei fordert die stimmliche Potenz des grossen Verdi-Baritons. Massimo Cavaletti, der die Figur mit elegischen und sarkastischen Extremen verkörpert, kann damit verschwenderisch und kontrolliert umgehen. Seine grosse Soloszene beeindruckte umso mehr, als er zu keinen Mätzchen zu greifen brauchte, um die Figur als Karikatur der melodramatischen Vorgänger in Verdis Œuvre kenntlich zu machen.
Verdis Zurückblicken auf sein Theater geht aber über blosses Ironisieren hinaus, besonders im dritten Akt. Hier lockern sich die Strukturen, atmosphärische Poesie verbreitet sich, auch die Harfe kommt zum Zug. Im nächtlichen Wald führen die Einwohner von Windsor eine Maskerade auf, um Falstaff zu foppen, und verklären sich dabei unter dem weisen Blick des Komponisten, der den Menschenbetrieb durchschaut, als finstere Kobolde und zarte Feen, als Liebende und Geprüfte gleich selber.
Hier gewinnt auch Daniele Gattis Arbeit mit dem Orchester noch einmal hinzu an Farbigkeit und Feinheit, die zusammen mit packender Verve und dramatischer Zuspitzung den Abend prägten und deutlich machten, wie sehr Verdis Partitur klangmalerisch und musikalisch-gestisch zugleich Regiebuch ist. Dieses öffnet die Zürcher Inszenierung ganz unverstellt, mit schlanker Ökonomie, in der eine kleine Zuckerdose um so grösseren Effekt macht und ein einziger Slapstick-Auftritt der Polizei dem Klamaukbedürfnis vollauf Genüge tut.
Das Theater als Theater
Ein wunderbar «aufgeräumtes» Bühnenbild unterstützt Virtuosität und Leichtigkeit des Spiels. Rolf und Marianne Glittenberg führen von Bild zu Bild zu neuen Schauplätzen, aber alle gehören sie unter dasselbe schlichte Dach. Mit schönem Kostümmix über die Epochen hinweg und mit karger Ausstattung bleiben die Bilder abstrakt, ein wenig surreal und magisch; wenn man will, kann man auch an Breughel, an Magritte und Hopper denken, vor allem aber bleibt man im Haus, das auch das Theater ist.