Susanne Kübler, Tages-Anzeiger (22.03.2011)
Das Zürcher Opernhaus hat einen neuen «Falstaff»: Der Hauptdarsteller Ambrogio Maestri ist grandios. Und zum Glück weit weniger harmlos als die Regie von Sven-Eric Bechtolf.
Das Doppelkinn ist echt, und der Bauch besteht durchaus nicht nur aus Kissen: Der italienische Bariton Ambrogio Maestri ist ein Berg von einem Mann, in der Breite wie in der Höhe, und damit schon rein physisch prädestiniert für die Rolle des Falstaff, die er seit Jahren verkörpert – in Wien und Madrid und Baden-Baden, an der Mailänder Scala und in Verdis Heimat Busseto.
Aber es sind nicht nur die Kilogramme, die Maestri zum idealen Falstaff machen. Wie sein Gesicht vor Ekel oder Verzückung in Bewegung gerät; wie er den Finger ins Weinglas steckt, ihn genüsslich ableckt und danach im Ohr bohrt; wie sein schwerer Schritt elastisch wird, wenn amouröse Abenteuer locken; wie er überhaupt bis in die letzte Faser zu diesem bedauernswert peinlichen Helden wird, dem bei der Beschäftigung mit seinem eigenen Bauch die Manieren und der Sinn für eine Realität abhanden gekommen sind, in der man nur noch lacht über einen wie ihn: Das macht ihm so schnell keiner nach.
Und zu allem Überfluss hat Maestri auch noch die perfekte Falstaff-Stimme: Er quäkt und brüllt, er säuselt und höhnt, aber er übertreibt nie dabei. Und er hat recht, wenn er singt, dass die Welt langweilig wäre ohne ihn. Zumindest die Zürcher Aufführung wäre auf jeden Fall langweilig.
Märchen statt Miseren
Regisseur Sven-Eric Bechtolf, dem sonst eigentlich immer etwas einfällt, hat sich diesmal sehr zurückgehalten. Vielleicht hat auch ihn dieser Falstaff einfach umgehauen. Vielleicht kann man diese letzte Verdi-Oper tatsächlich nur zeigen, weil jeder Regie-Eingriff das Spiel stören würde. Allerdings könnte auch die reine Darstellung inspirierter sein: Im grossen Finale etwa, wenn sich all die echten und falschen Liebeskonstellationen verknäueln und wieder auflösen, liessen sich viele kleine Geschichten erzählen. In dieser Aufführung bewundert man vor allem die Ausstattung.
Sie stammt von Rolf und Marianne Glittenberg und wird in diesem Finale so richtig opulent. Zauberisch glitzernde Fäden, tiefblaues Licht und Kostüme wie aus dem Bilderbuch verwandeln die Bühne in eine Märchenwelt – und man könnte glatt übersehen, dass Falstaff hier ziemlich brutal aus seinem eigenen Märchen geholt wird. Die menschlichen Miseren, die in dieser durchaus nicht nur lustigen Geschichte ein Thema wären, verschwinden hinter den prächtigen Bildern.
Verliebt und verlegen
Auch die Ästhetik des bisherigen Abends ist im Finale nicht mehr da: Die etwas gar nüchterne Architektur des ersten Akts, der Zeitenmix bei den Kostümen, der Blümchentapeten-Realismus im Hause Ford. Wir sind nun mal im Theater, es ist alles nur Theater – das ist die Schwäche dieses Abends.
Es ist, andererseits, auch seine Stärke. Denn die Sängerinnen und Sänger sind allesamt ziemlich gute Schauspieler, zum Teil gar exzellente, und Bechtolf lässt ihre Talente zur Geltung kommen. Yvonne Naef geniesst die Rolle der Intrigantin Mrs. Quickly und steht ihrem Opfer Falstaff auch in Sachen stimmlicher Wandlungsfähigkeit nicht nach. Barbara Frittoli porträtiert als Alice Ford in Gesten und Stimme die Grande Dame aus der Provinz. Judith Schmid gibt die Meg mit dunkel leuchtender Stimme und längst nicht so etepetete, wie es ihre Frisur vermuten liesse. Und wenn Javier Camarena (Fenton) und Eva Liebau (Nannetta) ihre junge und noch gänzlich intrigenfreie Liebe besingen, färbt sich der Himmel rosa, und die übrige Bühnenwelt steht still – weil die beiden so hinreissend verlegen und verliebt gucken können (und, dies die weniger freundliche Interpretation, weil der schon so vielfach bewährte Stillstand dem Regisseur die Lösung des Problems erspart, was denn die übrigen Figuren während dieser Liebesszenen tun).
Licht an!
Das Orchester liebt dann jeweils herzlich mit. Chefdirigent Daniele Gatti, der mit dieser Premiere bereits bei seiner sechsten «Falstaff»-Produktion angelangt ist, betont die theatralische Seite von Verdis Musik, die sich mit den Figuren aufplustert oder amüsiert, mit ihnen leidet oder eben auch liebt. Wo immer starke Farben, rasante Crescendi und prägnante Stimmungen gefragt sind, läuft das Orchester unter seiner Leitung zu Hochform auf.
Dagegen zerfasern die Ensembles, in denen jeder seine eigene Strategie verfolgt. Und vor allem wird zugunsten einer vollen Klangentwicklung immer wieder das rasche Parlando gebremst, mit dem Verdi die Handlung voran- treibt – was umso mehr stört, da auch die Umbaupausen zwischen allen Bildern verhindern, dass der Abend so richtig in Schwung kommt.
Aber wir sind nun mal im Theater, nur im Theater. Während der finalen Fuge wird der Tisch fürs Bankett zu Ehren von Fenton und Nanetta aufgestellt, womit auch der Übergang zur Premierenfeier schon angebahnt ist. Das Licht im Zuschauerraum geht an, bevor die Oper fertig ist, und Falstaff, der grandiose, schaut scharf ins Publikum: «Tutti gabbati!», singt er, «alle geprellt!»
Ein bisschen schon.
Man könnte glatt übersehen, dass Falstaff ziemlich brutal aus seinem eigenen Märchen geholt wird.