Ein Titelheld wie aus dem Bilderb(a)uch

Christian Berzins, Mittelland-Zeitung (22.03.2011)

Falstaff, 20.03.2011, Zürich

Daniele Gatti leitet mit Giuseppe Verdis «Falstaff» seine erste Premiere am Opernhaus Zürich

Mit Giuseppe Verdis «Falstaff» verhält es sich ähnlich wie mit der Goethe-Gesamtausgabe im Regal: Alle finden sie grossartig, kaum einer liest sie. «Falstaff» oder «Traviata»? Der Fall ist klar. Vor allem für das Zürcher Publikum. Quillte das Opernhaus vor wenigen Wochen bei Rossinis lustig-harmlosem «Le comte Ory» über, gab es am Sonntagabend im Parkett einige Lücken.

Schade. Lustig wäre die Geschichte vom verfressenen und versoffenen, sich in Liebesdingen selbst überschätzenden Koloss Falstaff, den die rachsüchtige Gesellschaft verhöhnen will, nämlich auch. Aber nicht nur. Denn Verdi stiess 1893 mit seiner letzten Opernvertonung das Tor zum 20.Jahrhundert weit auf. William Shakespeares Vorgaben packten der Komponist Verdi und sein Librettist Arrigo Boito in eine kühn gestraffte lyrische Komödie: Aus der Aneinanderreihung komödiantischer Szenen wächst mehr und mehr ein tiefsinniges, melancholisches Spektakel. Die einzige Arie dauert kaum 90 Sekunden, grosse (Verdi-)Oper gibts vermeintlich nur mehr als Zitat. Zum Schluss münden die unzähligen Elemente in eine Fuge: Zu den Worten «Alles auf der Welt ist Posse» wird die Musik streng wie im Vorbarock. Grandios!

Hut ab vor dem Chefdirigenten

Das Werk ist naturgemäss eine der Lieblingsopern von Opernhauschefdirigent Daniele Gatti. Mehr noch: «Falstaff» ist nach eineinhalbjähriger Amtszeit seine erste (!) Zürcher Premiere. Zu behaupten, dass deswegen die Spannung im Saal sehr gross war, wäre übertrieben. Zürich ist trotz 75 Subventionsmillionen nun mal keine Opernstadt. Aber schon nach dem fulminanten ersten Bild zog wohl manch einer imaginär den Hut. Das ist kein «Falstaff» der Zartheiten, sondern der grossen, schneidenden Gesten. Gatti bleibt sich treu. Der Mailänder Dirigent fällt förmlich mit der Tür ins Haus, lässt in der Folge nicht locker, reizt die angebotene Orchesterpalette aus, lässt unter Hochdruck spielen. Das Opernhausorchester folgt ihm prächtig. Dass die lyrischen Passagen weniger stimmig gelingen, liegt wohl mehr an einzelnen Sängern.

Nicht ganz so aufregend ist die Regie von Sven Erich Bechtolf, Ale-xander Pereiras zukünftigem Theaterchef bei den Salzburger Festspielen. Da geht es routiniert und mitsamt Feentanz traditionell komödiantisch zu und her, allerdings durchaus musikalisch gedacht. Der Abend lebt weniger von der psychologisch ausgelegten Interaktion der Figuren als vielmehr von den schlichten wie stimmigen Bühnenbildern Rolf Glittenbergs, dem atmenden Licht von Jürgen Hoffmann. In dieser Neuproduktion wurde mehr arrangiert als an Charakteren gefeilt.

Famoser Titelheld

Dank Titelheld Ambrogio Maestri geht das gut. Seit Riccardo Muti den Bariton im Verdi-Jahr 2001 an der Scala der Opernwelt präsentierte, ist er an den grossen Bühnen der Falstaff vom Dienst. Doch trotz Erfahrung und den kolossalen Idealmassen wirkt seine Schauspielleistung blass. Maestri lässt Falstaff aber durch die Ausschmückung jedes Wortes, ja jeder Silbe erstehen. Man glaubt ihm daher alles, nimmt ihm die Lust an einer verzehrten Sardine ab. Jene auf die Frauen sowieso. Auch die anderen Sänger sind famos. Angeführt von der reif strahlenden Barbara Frittoli (Alice), über die prächtig orgelnde Mrs Quickly (Yvonne Naef) zum schneidend scharfen Massimo Cavalletti (Ford) und zu den grossartigen Nebenrollen. Das junge Liebespaar (Eva Liebau und Javier Camarena) fällt leicht ab.

Ein Abend aus dem alten Opernbilderbuch. Dort wie auch in der Goethe-Gesamtausgabe zu blättern, kann durchaus zufrieden stimmen.