Sigmund Freud lässt grüssen

Werner Pfister, Zürichsee-Zeitung (09.05.2006)

Don Giovanni, 07.05.2006, Zürich

Ein Mozart ganz im schwülen Treibhausklima des Art déco der Wiener Secessionskünstler. Neurotiker bevölkern die Bühne, und um deren Psychologie - mit einem Freud'schen Schielblick zur Psychologie der Naturvölker - geht es hier.

Als «dramma giocoso» bezeichnete Mozart seinen «Don Giovanni», im persönlichen Werkverzeichnis gar als «Opera buffa»; trotzdem, diese «Oper aller Opern» (E. T. A. Hoffmann) lässt nicht mit sich spassen. Don Giovanni, das ist - nach Kierkegaard - die «Genialität des Sinnlichen», das ist erotisch-sexuelle Potenz, die den Mann von Frau zu Frau treibt, das ist Kraft, Freude, Lust, Anarchie. Das ist die Inkarnation jener Sinnlichkeit, die weder Grenzen kennt noch akzeptiert und genau darin im Widerspruch zu den gesellschaftlichen Normen steht und darum nur als Wunschbild vegetiert, ins Unbewusste verdrängt, als Tabu verteufelt und letztlich doch nicht des Teufels. (Übrigens, bei der Prager Uraufführung des «Don Giovanni» 1787 sass Casanova im Publikum.)

Don Giovanni ist kein Individuum im herkömmlichen Sinn, sondern (wiederum nach Kierkegaard) ein Impuls; reines Sein also, das sich nichts beweisen muss. Und entsprechend will uns auch seine Geschichte nichts beweisen, am wenigsten die vermeintliche Moral am Ende der Oper: «Questo è il fin di chi fa mal» (Also stirbt, wer Böses tut). Denn Mozarts Musik stellt Don Giovanni unzweifelhaft als Sympathieträger dar. Er lebt grenzenlos aus, was wir nur in engen Grenzen dürfen - also auch jene erotischen Nachtseiten des Lebens, von denen wir nur tagträumen können. Auf dieser Dichotomie fusst Sven-Eric Bechtolfs Inszenierung, ablesbar an der Lebensbefindlichkeit aller Figuren, die zwischen Trieb und Ordnung, zwischen Ausleben und Unterdrücken hin und her gerissen, fast zerrieben werden. Ein Schicksal gleicht dem andern, eines setzt sich im andern fort, tiefenpsychologische Spiegelung bis ins Unendliche - und genau das zeigt der entsprechend tiefendimensionale Bühnenraum von Rolf Glittenberg.

Ein einziger Raum, zehn Gassen zu beiden Seiten, welche schnellste Verwandlungen hinter schnell gezogenen Vorhängen ermöglichen. Im Gegensatz zur Pariser Art-déco-Avantgarde, die im Überflüssigen das Notwendige sah, beschränkt sich Glittenbergs Raumausstattung auf die elitäre Eleganz des Kostbaren: die Wände aus lauter Gold, schwarzlederne Sitzgruppen, die auch zum Liegen dienen, dazu ein Bar-Tresen für Don Giovannis frivole Feste.

Gefestet wird einen ganzen Abend lang - mit einem Heer von Tänzerinnen und Tänzern. Zu Beginn allerdings stehen sie regungslos wie Puppen da, und mit einem Staublappen wird ihnen der letzte Glanz verpasst. Keine Individuen, sondern - ein Grundkonzept von Sven-Eric Bechtolfs Inszenierung - Spiegelungen der Protagonisten allesamt. In ihnen, mit ihnen wiederholt sich und setzt sich fort, was den Protagonisten geschieht, jenes abgründige Spiel erotischen Getriebenseins, das zur Lust strebt und noch mehr Schmerzen zufügt.

Verführung

Frauen werden oft bis auf ihre Dessous ausgezogen, auf ihr Fleisch reduziert, die Männer auf ihre Potenz. Die Kunst der Verführung geht nahtlos in die Abscheu einer Vergewaltigung über; beides liegt sich, psychologisch gesehen, gefährlich nahe. Umgekehrt erreicht die Inszenierung gerade dort einen Höhepunkt, wo sie die (durchaus schmerzliche) Verwunderung der Frauen über ihre eigene Verführbarkeit zum Ausdruck bringt und wo sie die Frau selber zur Verführerin macht.

Ein Ausscheren aus diesem (unmenschlichen) Spiel, diesem (animalischen) Mechanismus der Sexualität, gibt es offenbar nicht, und darin erreicht Bechtolfs Inszenierung eine beeindruckende Schlüssigkeit. Dass er diese schwarz schattenden Nachtseiten der menschlichen Triebhaftigkeit immer wieder virtuos mit den hellen Lichtseiten eines unbekümmerten Spieltriebs, eines genuinen Komödiantentums zu verbinden vermag, verdient noch mehr Respekt.

Die 450. Vorstellung

Und er kennt seinen Sigmund Freud, dessen 150. Geburtstages wir dieser Tage ja gedenken. Von der Sexualität als Tabu ist es zu «Totem und Tabu» (Freuds Aufsatzsammlung von 1913) nur noch ein kleiner Schritt. Bechtolf scheint ihn in der Szene des Komturs zu gehen, der als steinerner Gast (als sein eigenes Friedhofdenkmal) gleichsam wiederbelebt auftritt. Dass die «Psychologie des Neurotikers» (und sexuelle Neurotiker sind sie bei Mozart respektive bei Bechtolf alle) mit der «Psychologie der Naturvölker» Übereinstimmungen aufweise, liest man bei Freud. Ob allerdings die Magie des Animismus, mit der Bechtolf den toten Komtur erneut zum Leben «beseelen» lässt, eine geeignete Grundlage für diese doch eher als oberflächliches Theaterspektakel gedachte Szene hergibt, bezweifle ich.

Der szenischen Virtuosität im Spiel mit den Licht- und Nachtseiten entspricht die musikalische. Franz Welser-Möst, der bei dieser Premiere zum 450. Mal am Pult des Orchesters der Oper Zürich stand, lässt dieses nicht in seinem angestammten Graben, sondern auf Parkett-Ebene musizieren. Entsprechend satt und vehement zupackend ist der Klang, federnd und behende; hier ist Mozart als Dramatiker zu hören, als kraftvoller Geist. Gleichzeitig beeindruckt Welser-Möst durch einen artikulatorischen Charme und durch eine wie in kostbaren Samt gekleidete Sanglichkeit, anrührend und brillant.

Potent und impotent

Dazu passt der Hammerflügel, mit dem die Rezitative begleitet werden, hervorragend. Zudem räumt Welser-Möst den Sängern die Freiheit zu kleinen Verzierungen ein. Und diese Sänger lassen allesamt kaum Wünsche offen. Am wenigsten Simon Keenlyside als Don Giovanni: Ein potentes Mannsbild wie aus dem Fitness-Studio, ein Ausbund an lustbetonter Vitalität mit kraftvoller, aber nie kraftmeiernder Stimme, unglaublich flexibel auch im Piano, einschmeichelnd und aufbrausend je nachdem.

Eva Mei spielt als Donna Anna ganz die stolze Pose aus, schauspielerisch in jedem Schritt, in jeder Geste perfekt, stimmlich manchmal mit etwas kühlem, aber dennoch edlem Glanz. Malin Hartelius singt zum ersten Mal Donna Elvira, und sie tut das ohne jene hysterische Aufgekratztheit, wie man sie sonst in dieser Partie immer wieder hört (und dann zum Verdruss unserer Ohren). Diese Elvira fasziniert durch vokale Menschlichkeit und eine beseelte Pianokultur, die gleichsam das emotionale Innenleben auf den Lippen trägt.

Anton Scharinger ist ein wendiger Leporello, der mit Papageno irgendwie ein klein bisschen verwandt zu sein scheint. Dass er die Partie seit zwanzig Jahren singt, hört man ihm ein wenig an. Umgekehrt ist Piotr Beczala als Ottavio noch fast ein Novize, und er singt die Partie mit glühend jugendlichem Impetus, aber jederzeit sicherer Kontrolle in den Kantilenen. Dass die Regie ausgerechnet aus ihm einen alten, weisshaarigen (impotenten?) Mann gemacht hat, will deshalb nicht recht einleuchten. Martina Jankova und Reinhard Mayr ergänzen als Zerlina und Masetto das Ensemble beide in bewundernswerter Bestform.

Beim Schlussapplaus ein paar Buhrufe beim Erscheinen des Regisseurs, die aber sofort niedergebrüllt wurden.